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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Nachruf auf Humberto R. Maturana

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Kurt Ludewig, Münster: Ein Menschenfreund ist von uns gegangen. Humberto Maturana verstarb am 6. Mai 2021

¡Hola!
¿De dónde eres?
De Chile, igual que tu.
¡Que bien!
[Hallo! -▸ Woher kommst Du? -▸ Aus Chile, so wie du -▸ Wie schön!]

Dieser knappe Wortaustausch zwischen Landsleuten im Ausland war der Auftakt zu einer Freundschaft, die sich über zwei Jahrzehnte erstrecken sollte. Die Begegnung fand im Frühjahr 1984 am Anfang einer Tagung in Calgary, Kanada, statt. Von seinem Gastgeber angeführt, betrat Humberto Maturana den Vorraum der Tagung und begrüßte jeden der im Kreis wartenden Teilnehmer mit Handschlag. Der kanadische Psychiater und Familientherapeut Karl Tomm hatte ihn und Heinz von Foerster eingeladen, im Rahmen einer zweitägigen Vortagung die live-Arbeit der Mailänder Familientherapeuten Luigi Boscolo und Giancarlo Cecchin zu beobachten und aus epistemologischer Sicht zu reflektieren. Zu der Vortagung war eine Reihe von prominenten Vertretern der systemischen Ansätze aus Nordamerika eingeladen, darunter Lyman Wynne, Harry Goolishian, James Gustafson und Sallyann Roth. Freundlicherweise hatte Tomm zudem alle ausländischen Teilnehmer zu der Vortagung eingeladen, darunter John Burnham, Alison Roper-Hall und Queenie Harris aus England, Laura Fruggeri und Massimo Matteini aus Italien sowie eine Gruppe von Japanern und mich aus Deutschland . Die anderen ortsnahen Teilnehmer kamen drei Tage später zu der eigentlichen Tagung.

Zurück in Deutschland berichtete ich über diese für mich unglaublich erfüllende Tagung für die Zeitschrift für systemische Therapie folgendermaßen: 

“Eigentlich bin ich nach Calgary gegangen, um Humberto Maturana kennenzulernen. Der Versuch, seine Ausführungen zu beschreiben, ruft in mir allenfalls metaphorische Umschreibungen hervor wie “kristallklare Dunkelheit” oder “tiefdunkle Helligkeit”. Ich schrieb in mein Notizbuch am Ende des ersten Teils der Konferenz: Ich erwache allmählich aus einem Zustand, in dem kaum Neues mir sehr neu vorkam, wie aus einer hypnotischen Trance. Ich bin hundemüde, hab kaum geschlafen. Vielen geht es ähnlich. Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich als Familientherapeut nach Amerika gekommen bin und dass ich meinen in Hamburg gebliebenen Kollegen von meinen Erlebnissen berichten soll. Aber was? Habe ich denn überhaupt etwas gelernt? Aber ich bin zufrieden. Und wie!”. Bin ich in Calgary zum Schwärmer geworden? Bin ich einem neuen Guru auf dem Leim gegangen, fragte ich mich.

Ja, ich bin vielleicht zum Schwärmer geworden, jedoch in dieser Distanziertheit nicht für lange, denn ein paar Tage später hatte ich aus dem vermeintlichen Guru einen Freund, also einen realen Menschen als Lehrer und Begleiter gewonnen. Anstatt mit den anderen am Pausentag vor der eigentlichen Tagung in das Skigebiet im Banff-Nationalpark zu fahren, schenkte mir Humberto einen ganzen Vormittag, um in der kanadischen Kälte spazieren zu gehen und schließlich auf den Stufen des Football-Stadions sitzend zuerst meine inhaltlichen Fragen zu beantworten. Dann aber berichtete er mir über Chile. Nach dem Putsch und dem blutigen Beginn der Militärdiktatur hatte ich beschlossen, alle Bezüge zu meiner Heimat abzubrechen und zu vergessen, dass ich Chilene war. Nach und nach eröffnete mir Humberto eine Sichtweise auf Chile, die mich nicht nur beruhigte, sondern in mir ein immer heftigeres Heimweh aufkommen ließ. Unter anderem hatte er mir aus seiner biologischen Perspektive erklärt, wieso Chilenen sich im Ausland schnell wieder erkennen und unabhängig von irgendwelchen Unterscheidungen sich rasch verständigen und einander zugehörig fühlen. Es sei ganz einfach, meinte er, denn alle Chilenen haben die gleiche Muttermilch getrunken, ob als reich geboren, von der armen Amme, oder als arm geboren eben von dieser gleichen Amme, hier aber als armen Mutter. Diese schöne Metapher hat mich seitdem immer wieder beflügelt.

Auf die Frage, ob und was ich in Calgary gelernt habe – schließlich hatte mir die Universität Hamburg diese Reise nicht für eine persönliche Begegnung finanziert – habe ich damals berichtet:  “Meine Gedanken zu Maturanas Epistemologie bekamen eine neue Tönung, eine persönlichere. Ich bedaure es jetzt nachträglich, dass ich den Zugang zu seinen Schriften nicht über unsere Muttersprache, sondern über meine Stiefmuttersprachen Deutsch und Englisch fand”.  Trotz der vielen Denkanstöße, die ich bei Humbertos stundenlangem Vortrag gewonnen habe, die weit über den Bereich der biologischen Begriffe wie Autopoiese, Ontogenie, Organisation/Struktur, strukturelle Kopplung und biologische Nische hinaus in das Feld des Lernens, der Politik, Ethik und nicht zuletzt der Liebe hineinreichten, bleibt in meinem Gedächtnis an vorderster Stelle die persönliche Begegnung mit diesem Menschen. So gesehen, war mein Besuch in Calgary im Wesentlichen persönlicher Natur.

Das von Humberto in mir ausgelöste Heimweh wuchs in der Folgezeit so sehr, dass ich Ende 1984 in Begleitung meiner Frau und Kinder nach Chile flog. Vierzehn Jahre waren seit meinem letzten Heimatbesuch vergangen und ich fand mich wieder in einem fast unbekannten Land. Schwerbewaffnete Ordnungshüter patrouillierten in der Innenstadt, das Land befand sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise mit einer enormen Arbeitslosigkeit. Die Menschen aber, meine Familie, meine alten Freunde und insgesamt diejenigen, denen man bei verschiedenen Gelegenheiten begegnete, waren so freundlich und herzlich wie eh und je. Man hörte allerdings von steigender Kriminalität vor allem wegen der perspektivlosen Situation der Armen und Entrechteten.

Vor diesem wenig gastlichen nationalen Hintergrund schenkte mir Humberto wieder einmal ein wenig von seiner kostbaren Zeit. Ich bat ihn telefonisch um einen Interview, weil ich Fragen zu seinen Auffassungen hätte. Er lud mich ein, ihn in seinem Labor an der Universidad de Chile in Santiago aufzusuchen. Mit einem Tonbandgerät gerüstet suchte ich ihn auf und fand ihn in einem Labor, das eher ärmlich wirkte und mich eher an solche in deutschen Gymnasien erinnerte und nicht unbedingt an den Standard universitärer Einrichtungen. An der Tür zum Labor stand neben “Epistemología Experimental” auf einem zweiten Schild “Neurofilosofía”. Das fand er witzig und bemerkte, dass er dieses Schild entfernen müsste, wenn sein ehemaliger Schüler und späterer Kollege Francisco Varela vorbeikäme. 

In seinem kleinen Büro führten wir ein Gespräch über mehrere Stunden bis in den Abend hinein. Dabei bekam ich die Gelegenheit, all die Fragen zu den Themen zu stellen, die ich beim Lesen seiner Schriften entweder nicht vollständig verstanden hatte oder die in mir Zweifel aufkommen ließen. Humberto antwortete derart ausgiebig und flüssig, als würde er von einem Manuskript vorlesen. Seine Antworten waren so präzise und gehaltvoll, dass ich dankbar war, sie auf Tonband aufgenommen zu haben. So würde ich sie später wieder anhören können, um sie überhaupt zu verstehen. Mit anderen Dingen befasst, habe ich das Ergebnis dieses Interviews zunächst allein als Grundlage und Hilfsmittel für die Übersetzung des Buches “Der Baum der Erkenntnis” verwendet. Erst im Jahr 1989 im Verlauf einer kleinen Tagung in Südchile erfuhr Lucio Rehbein, der damaliger Direktor des Instituts für Psychologie der Universidad de La Frontera in Temuco, von diesem Material und schlug vor, sie zu transkribieren und zu veröffentlichen. Das geschah dann im Jahr 1992. Einige Jahre später hat ein spanischer Student, der ein Praktikum in unserer Klinik in Münster absolvierte, das Büchlein ins Deutsche übersetzt. Eine von mir redigierte Korrektur dieser Übersetzung liegt im systemagazin vor (vgl. Ludewig u. Maturana 1992).

Es gibt sicher eine Reihe weiterer Situationen, in denen ich von der Freundschaft mit Humberto profitieren durfte. Ich zog es hier aus Anlass seines Ablebens vor, mich auf diese beiden erwähnten Geschenke zu beschränken, in denen er mir nicht nur Zeit schenkte, sondern mich persönlich an seinem Denken teilhaben ließ. Dafür und auch für viel mehr bin ich ihm unendlich dankbar.

In Calgary entstand eine lang anhaltende Freundschaft, die mein Denken und psychotherapeutisches Handeln wesentlich geprägt hat. Mit seinem Tod im fernen Chile konfrontiert, durchlief ich in Gedanken unsere vielen Begegnungen und meine Stimmung wechselte dabei hin und her von einer tiefen Wehmut angesichts des Unwiederbringlichen zu einer melancholisch gefärbten Freude beim Hervorbringen der vielen Erlebnisse und Denkanstöße, die ich durch sein liebevolles und wohlwollendes Entgegenkommen erfahren konnte. Im Hinblick auf meinen intellektuellen und wissenschaftlichen Standpunkt verdanke ich Humberto eine Klarheit, die ich bis zu unseren Begegnungen durch meine Studien und sonstigen Bemühungen gesucht, aber vermisst hatte. Das ist ein Geschenk, wofür ich nicht genug danken kann. Deshalb beschränke ich hier meinen Nachruf darauf, in tiefer Dankbarkeit über meine Beziehung zu meinem verstorbenen Freund und Mentor zu schreiben. Alles andere, nämlich die Darstellung einer Biografie und seiner Wege als innovativer Wissenschaftler lässt sich verschiedentlich an anderen Orten nachlesen, zum Beispiel in Ludewig 2005 und im systemagazin anlässlich seines 80. und 90. Geburtstags. Bezüglich seiner theoretischen Arbeiten sei hier z.B. auf Maturana (1982, 1994, 1998), Maturana und Varela (1972, 1984), Ludewig und Maturana (1992) sowie Maturana und Pörksen (2002) verwiesen.

Auf meine Frage beim Interview in Santiago, wie er seine Rolle auf dem Gebiet der Psychotherapie sehe, antwortete er: “wie die einer vorbeiziehenden Sternschnuppe”, und wir beide lachten. Es kann tatsächlich sein, dass der Name Maturana nicht mehr so oft im Rahmen von Seminaren und Ausbildungen erwähnt wird und nicht in jeder Literaturliste auftaucht. Schaut man aber nach den Prämissen, auf denen die Theorie zumindest der systemischen Therapie gründet, stößt man unweigerlich auf seine Konzepte, ob sie als solche genannt oder einfach als mittlerweile selbstverständliche Bausteine einbezogen sind.  Mit seinem Tod hinterlässt Humberto Maturana einen reichhaltigen Fundus an Konzepten und Gedanken, die ihn überleben werden. Dafür sind ihm viele in der Welt dankbar. In mir hinterlässt er das Gefühl, von einem großen Mann und Wissenschaftler freundschaftlich aufgenommen worden zu sein. Für mich, Humberto, bist Du unsterblich.

¡Adiós amigo mio!

(Fotos aus dem Privatbesitz von Kurt Ludewig)

Literaturhinweise

Levold, T. (2008, 2018): Humberto Maturana wird 80! und Humberto Maturana wird 90! In: systemagazin.
Ludewig, K. (1984): Bin ich zum Schwärmer geworden? Über meinen Besuch der Internationalen Konferenz “ The Construction of Therapeutic Realities” vom 23.-29. April 1984 in Calgary, Kanada. In: Zeitschrift für systemische Therapie 6: 135-139.
Ludewig, K. & H.R. Maturana (1992): Conversaciones con Humberto Maturana: Preguntas del psicoterapeuta al biólogo. Temuco, Chile (Universidad de La Frontera).[Deutsch (2006): Gespräche mit Humberto Maturana. Fragen zur Biologie, Psychotherapie und den ‘Baum der Erkenntnis’ oder: Die Fragen, die ich immer stellen wollte“. In: systemagazin]
Ludewig, K. (2005): Maturana, Humberto R.. In: Stumm G. Et al. (Hrsg.): Personenlexikon der Psychotherapie. Wien (Springer), S. 313-315.
Maturana, H.R. & F.J. Varela (1972)De máquinas y seres vivos. Santiago de Chile (Editorial Universitaria). [Deutsch (1982): Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebedingen Organisation, in: Maturana, H.R.: Erkennen, S. 170-235].
Maturana, H.R. (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig (Vieweg).
Maturana, H.R. & F.J. Varela (1984), El árbol del conocimiento. Santiago de Chile (Editorial Universitaria). [Deutsch (1987): Der Baum der Erkenntnis. München (Scherz)].
Maturana, H.R.: (1994): Was ist Erkennen?, München (Piper).
Maturana, H.R. (1998): Biologie der Realität, Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Maturana, H.R. & B. Pörksen (2002): Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme).

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