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Matthias Ohler: Ich gehöre allen. Mir gehört niemand.

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Matthias Ohler, Bad Dürkheim:

So könnte man aphoristisch eine Denkmöglichkeit formulieren, die mir die erste Begegnung mit Texten Humberto Maturanas vor nahezu dreißig Jahren anbot.
Es war schon eine Art Befreiungserlebnis. – So etwas sollte man ja mit aller gebotenen Vorsicht sagen, aber ich traue mich nach sorgsamer Prüfung tatsächlich, es so nennen.
Aphorismen sind, aus meiner Sicht, Erfahrungssätze, die kurz vorm Status der Gewissheit stehen, aber noch durchscheinen lassen, dass sie aus einem oft lange erfahrenen Weg dorthin entstanden sind – und lieber nicht als fraglose Gewissheiten enden wollen.
1986 stand für mich fest, dass ich nach dem Universitätsexamen nach Tibet gehen werde. Wollte Erleuchtung suchen. Da fielen mir durch Vermittlung Hans Rudi Fischers diese Texte von Humberto Maturana ins Leben. – Folge: Ich konnte hier bleiben.
Dies steht auf einer mit persönlichen Kommentaren versehenen Literaturliste, die ich im Rahmen von Weiterbildungen zu einigen Grundbegriffen von Konstruktivismus und Systemtheorie ausgebe, bei der Empfehlung für Maturana, Humberto: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden 1982, Vieweg.
Tatsächlich verstand ich zunächst nur Bruchteile dessen, was mir in diesen alle meine Konzentration fordernden Texten angeboten wurde. Ich verstand aber sofort, dass es hier für mich auch um Chancen ging, ganz neue Ideen zu bekommen zur BeHandlung einer von mir so erlebten Grundspannung des Daseins: allein sein und zusammen sein mit Anderen. Einige heftige Konflikte, beispielsweise in Freundschaften und unserer anarchistischen Theatergruppe, hatten mich mit dieser Grundspannung immer wieder in unsanfte Berührung geraten lassen. In Maturanas Konzeption lebender Systeme als autopoietische Systeme zogen sehr neue, einleuchtende Ideen auf, die helfen konnten, die paradox anmutenden Anforderungen, die sich mir stellten, akzeptieren, ja begrüßen und auf jeden Fall besser aushalten zu können, weil ich erlebte, wie ich handlungsfähiger wurde. Besonders im Kontakt mit anderen Ideen, wie beispielsweise den Sprachspielen als Untersuchungsmethode in Ludwig Wittgesteins Philosophischen Untersuchungen oder phänomenologischen Analysen wie Jean-Paul Sartres Der Blick in Das Sein und das Nichts entfaltete sich das Autopoiese-Konzept in einer eigenen Autopoiese von Lebensbewältigung über nützliches Philosophieren und sinnstiftende Theorie, die sich immer in der Prüfung am eigenen Erleben, Tun und Aushalten zu bewähren hatte.
Die Erfahrungen in der seither ununterbrochenen Beschäftigung mit größer angelegten theoretischen Entwürfen haben mir immer wieder gezeigt, dass Theorie zu betreiben im wahrsten Sinne des Wortes ein lohnendes Geschäft ist. Der return on investment ist in der immer aufs Neue erfahrenen Erhöhung von Selbstwirksamkeit zu sehen, die diese Beschäftigung hervorbringt. Am deutlichsten, wenn man selber mit Freuden theoretisiert und dabei lernt, aufzupassen, welche Folgen sich als nützlich herausstellen – und welche nicht.
Wie fragt man gut nach dem Guten? Wie erkennt man Einladungen zu fragwürdigen anthropologischen Konzepten und schlägt sie gewinnbringend aus? Wie verhindert man, für weise gehalten zu werden – besonders von sich selbst – und bleibt fähig, zu Entscheidungen beizutragen, die sich als weise heraus stellen könnten?
Im Zentrum guter Bildung steht nicht ein Katalog von „tools of tooligans“, sondern die Suche nach Verlässlichkeit in der Vorläufigkeit. Nennen wir es vorerst Sichere Kontingenz. Das muss kein Ende finden.

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