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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Linde v. Keyserlingk (8.5.1932 – 2.10.2020)

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Am 2.10.2020 starb in Stuttgart die Familien- und Kindertherapeutin und Kinderbuchautorin Linde v. Keyserlingk. Arist von Schlippe und Gatis Bušs aus Lettland nehmen hier von ihr Abschied.

„Linde war für uns ein Fenster nach Europa“ 

Gatis Bušs (Riga) und Arist v.Schlippe (Osnabrück) zum Tode von Linde v. Keyserlingk

Erster Teil (Arist v.Schlippe)

Am 2.10.2020 starb die Stuttgarter Familientherapeutin Linde v. Keyserlingk im Alter von 87 Jahren. Vermutlich werden nur wenige LeserInnen des Systemagazins ihren Namen kennen. Doch soll ihr komplexes Lebenswerk an dieser Stelle gewürdigt werden, es ist mehr als der Erwähnung wert. 

Sie war eine außergewöhnliche Frau, eine engagierte Familientherapeutin, Kindertherapeutin, Praktikerin und große Erzählerin. Ihre Bücher für die Kinderseele aus dem Patmos-Verlag sind bis heute lesenswert, sie erreichen verletzte Kinderseelen durch sensible kleine Geschichten (beson­ders bedeutsam finde ich: „Geschichten für die Kinderseele“ und: „Da war es auf einmal so still“ – über den kindlichen Umgang mit Tod und Sterben). Ihre Empathie und Intuition verbanden sich mit Kreativität und Genauigkeit – und so verstand sie viel davon, wie man Familien helfen kann, Belas­tungen in Chancen zu verwandeln. Ein Beispiel fällt mir hierzu ein: Einer ihrer Schwerpunkte war die Sandspieltherapie, deren Verbindung zu systemischen Konzepten gerade in jüngster Zeit wieder diskutiert wird. Ein Video, in dem sie mit einem multikulturellen Paar mit dieser Methode arbeitet, hat mich besonders beeindruckt. Beide Partner bauen hier jeweils ihren persönlichen Lebensent­wurf mit Figuren und Symbolen im Sand auf. Das Bild der deutschen Frau zeigt ein typisch deut­sches „Märchenhaus“, rote Ziegel, mit Tannen umgeben. Ihr afrikanischer Mann baut eine typische Szenerie aus seiner Heimat. Beide bekommen nun die Aufgabe, jeweils sieben Symbolfiguren aus dem eigenen Kasten herauszunehmen und in einem dritten Sandkasten eine gemeinsame neue Szenerie zu bauen. Es ist ein bewegendes Beispiel, wie man symbolisch Geschichten neu erzählen und an der Verbindung von Kulturen arbeiten kann.

Und genau dafür war sie von ihrer Lebens­geschichte her gut vorbereitet (s. auch den nebenstehenden Auszug[1]). Denn sicher das Wichtigste in ihrem Leben – neben ihren sieben Kindern, ihren zahlreichen Enkel­kin­dern und ihrem Mann – war ihre Verbun­den­heit mit dem Baltikum. Sie stammte selbst aus einer deutschbaltischen Familie, wurde in schwere Zeiten hinein geboren. Die Familie verlor zu Kriegsbeginn mit der Umsiedlung der Deutschbalten ihre Heimat. In Lettland war die Familie über 700 Jahre lang zu Hause gewesen. Nach der Wende Anfang der 1990er Jahre besuchte sie das alte Elternhaus im heutigen Vecpils und fand dort ein Kinder­heim vor. Die Begeg­nung wurde schicksalhaft. Man zeigte ihr zwei alte Fotos von ihrem Vater und dessen Bruder, die deren lettische Kinderfrau als Erinnerung an eine Zeit hinterlassen hatte, in der sie besonders glücklich gewesen war: „Vielleicht kommt mal jemand und freut sich darüber.“ Linde begegnete dort Menschen, die sie mit großer Herzlichkeit aufnahmen, über die Zeit hin entstand eine enge Beziehung. Sie überlegte, was sie selbst tun könnte, um etwas zurückzu­geben, um an die alten Zeiten, die so abrupt durch den Krieg beendet wurden, anzuknüpfen und Vergangenheit und Gegenwart auf gute Weise miteinander zu verbinden. „Ich dachte mir: Geld habe ich nicht“, so erzählte sie, „aber ich kann ja vielleicht in Riga eine Familientherapieausbildung anbieten!“ Und so begann sie, Interessenten anzusprechen und Unterstützung einzuwerben.

Anfangs waren die Umstände schwierig, viel Improvisation war nötig. Zugleich waren die Begeg­nun­gen mit den lettischen KollegInnen beglückend. Es war weit mehr als eine Ausbildung, es war ein Stück Versöhnungsarbeit zwischen den Völkern. Ich hatte Gelegenheit, diese Anfänge und die weitere Entwicklung miterleben zu dürfen. Ihre Initialzündung vom Beginn der 1990er Jahre hat weite Kreise gezogen. Heute gibt es in Lettland eine Gruppe gut ausgebildeter Therapeutinnen und Therapeuten; es sind Strukturen entstanden, die der systemischen Therapie einen guten Platz in diesem Land gewährleisten. Vor allem aber sind im Laufe der Zeit über die Landesgrenzen hinweg enge Freundschaften entstanden. Einen dieser Freunde habe ich gefragt, ob er auch etwas Persön­liches schreiben möchte – er hat dies getan, ich habe seinen Text bewusst nur minimal redigiert. Der Beitrag spricht für sich, seinem letzten Satz schließe ich mich aus vollem Herzen an.

Zweiter Teil (Gatis Bušs): Unsere Linde

Mein Weg mit Linde begann 1993, wenn sie besuchte Lettland. Wir trafen uns in meinem damaligem Arbeitsplatz Lettlands Familienzentrum. Damals sie erzählte über Familientherapie, über Metaphern und Märchen. Sie fragte, ob wir könnten interessiert sein in Ausbildung in Familientherapie. Ich antwortete mit JA, weil Lindes Erzählung hat mich so verzaubert, das schien so interessant und hinreißend.

Bis zum nächsten Treffen wir haben ein Jahr gewartet. In dieser Zeit Linde hat Finanzierung für Ausbildung gesucht. Wir haben eine erste Gruppe von 15 Leuten organisiert und Ausbildung in Familientherapie konnte beginnen. Linde zusammen mit ihrem Mann Hartmut kam nach Lettland in jedem drittem – viertem Monat. Die Ausbildung dauerte 6 Jahre lang. Parallel zu unserer Ausbildung hatte Linde eine Gruppe von Bauersfrauen organisiert und sie arbeitete mit dieser Gruppe in Vecpils, im ehemaligen Herrenhaus ihrer Familie. Sie hat uns erzählt, wie diese einfachen Frauen sich kreativ und selbstbewusst entwickelten. Sie brachte auch ihre Kollegen aus Deutschland nach Lettland mit, um unsere Ausbildung zu bereichern. Über sie wir kennenlernten deutsche Kollegen, die später nicht nur Kollegen aber auch unsere lieben Freunde wurden. Linde war für uns ein Fenster nach Europa.

Sie war ein Mensch, auf den wir immer vertrauen konnten, eine uneigennützige, menschliche, warmherzige Frau. Sie war sehr achtsam. Immer wenn sie kam nach Lettland, sie hat “Kleinigkeiten” aus der deutschen Kultur mitgebracht, damit wir besser die deutsche Kultur kennenlernen und sie besser fühlen könnten. Sie war auch hervorragende Erzählerin. Sie mit Worten konnte zaubern wunderschöne Bilder. In ihren Erzählungen sie hat schöne und überraschende Lösungen finden können. Mit Lindes Hilfe wir begannen unsere eigenen Geschichten zu schaffen.

Dank Linde hat die systemische Therapie eine wichtige Rolle eingenommen – wir Systemiker sind die größte Gruppe zwischen anderen Therapierichtungen in Lettland. Wir, Lindes Zöglinge, entwickeln unsere eigenen Ausbildungsprogramme. 2011 bekam Linde den Preis vom lettischen Psychotherapieverband für ihren großen Beitrag für die Entwicklung der Familientherapie in Lettland.

Liebe Linde, Du wirst immer in unseren Herzen bleiben!


[1] Umschlaginnenseite der lettischen Übersetzung von „Geschichten für die Kinderseele“: Stāsti Berna dveselei (Riga, 1998)

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