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Gregory Bateson über den Atomkrieg, die Wettrüstung und die Idee der Abschreckung

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Vor kurzem habe ich in alten Exemplaren der Zeitschrift für systemische Therapie geblättert und bin auf das Heft 3/1986 gestoßen, in dem es schwerpunktmäßig um das Thema Frieden ging. In den 1980er Jahren erfolgte der NATO-Doppelbeschluss, es war auch das Jahrzehnt der Friedensbewegung. Jürgen Hargens veröffentlichte in dieser Ausgabe drei Briefe von Gregory Bateson, die er an die Verwaltung der kalifornischen Universität schrieb. Als Mitglied des Verwaltungsrates der Universität und eines Sonderforschungsausschusses wendet er sich gegen die Rüstungsforschung, die an der Universität betrieben wurde und begründet in diesen Briefen seinen Austritt aus dem Ausschuss. Die Briefe wurden erstmals im Sommer 1980 im Lomi School Bulletin veröffentlicht und richten sich an den Verwaltungsrat (I), an das VR-Mitglied Vilma S. Martinez (II) und an das VR-Mitglied und Vorsitzender des Sonderforschungsausschusses William A. Wilson (III).

Ich finde die Briefe vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges Russlands gegen die Ukraine und des Konfliktes zwischen der NATO und Russland, der auf dem Boden der Ukraine ausgetragen wird, nachdenkenswert und möchte hier einige Zitate aus den Briefen wiedergeben. Sie betreffen nicht die beteiligten Personen, sondern sind eher allgemeine Überlegungen zur Rüstungsspirale und ihren Folgen.

(I) »Wir leben in einer Welt, in der Mißtrauen und Habgier und Gewalt sich als vernünftig maskieren und in der sich die Pfade von Mißtrauen und Habgier und Gewalt sehr schnell selbst bestätigen. Folgen wir diesen Pfaden, schaffen wir die sozialen und internationalen Strukturen, die Prämissen, mit denen wir leben. Wählen wir die „Vernunft” des Mißtrauens, wählen wir die fortschreitende Wahrheit des Mißtrauens. Wir machen das Grauen zum einzigen Weg zur Weisheit.

(…) leider ist es im Bereich von Haß und Mißtrauen immer leicht, Haß und Mißtrauen durch die Praxis von Haß und Mißtrauen zu bestätigen und diese Bestätigung wird dann besonders überzeugend, wenn wir uns mit einem Part ner zusammentun, der bereit ist, als unser Spiegelbild, als unser alter ego zu handeln. Nationale Ethik ist immer primitiver als individuelle Ethik und die Russen sind vielleicht willens, sich so übel wie wir zu verhalten — und manchmal noch böser.

Der alte Robert OPPENHEIMER sagte 1947 etwas, das seither in meinem Denken als der einzige weise Kommentar, den ich über die internationale Szene gehört habe, nachhallt. „Die Welt”, sagte er, „bewegt sich ständig in Richtung Hölle — mit hoher Geschwindigkeit, positiver Beschleunigung und vermutlich mit zunehmender Beschleunigungsrate. Vielleicht erreicht sie ihr Ziel nur unter der Bedingung nicht, daß wir und die Russen es wollen.” Jeder Zug, den wir (und/oder die Russen) aus Angst machen, jeder Versuch den Holocaust hinauszuzögern, beschleunigt die Welt auf ihrem tragischen Weg. Die Doktrin der Abschreckung geht davon aus (um es in kybernetische Begriffe zu übersetzen), daß die Netzwerke der Interaktionen zwischen den Nationen selbst korrigierend sind und daß negative Rückkopplung sich aus den Beiträgen für und der Beteiligung am Rüstungswettlauf ergeben. Aber Vertrauen ist irgendwie komplizierter.

Wie in biologischen Systemen üblich, wird der kurzfristige Abschreckungseffekt auf Kosten langfristiger kumulativer Änderung erreicht. Die Handlungen, die das Disaster heute aufschieben, erhöhen auf beiden Seiten der konkurrierenden Systeme das Potential und schaffen so eine größere Instabilität und eine weitreichendere Zerstörung, falls und wenn sich die Explosion ereignet. Genau diese Tatsache der kumulativen Änderung von der einen Drohung zur nächsten verleiht dem System die Qualität der Sucht. Der Süchtige mag denken, jeder „Schuß” sei wie der vorherige und tatsächlich gleicht sich jeder darin, Deprivationsgefühle zu beseitigen. Aber in Wahrheit unterscheidet sich jeder Schuß vom vorherigen, da sich die Schwellen und Größen aller wichtigen Variablen verschieben. (…)

Die Implikationen für den Charakter einer solchen Abschreckungsphilosophie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen des Appeasement. Beide sind gleichermaßen dumm, würdelos und letztlich tödlich. Appeasement und „defensives” Mißtrauen sind grundsätzlich ähnliche Politik — ähnlich in Form und Ergebnis —, sie führen in gleicher Weise zur Verzögerung und zur Sucht. Das ist keine triviale Angelegenheit (1). Dies zu erkennen, heißt aufzuwachen. Es heißt, anzufangen, das Grauen der gegenwärtigen Politik wahrzunehmen und zu sehen, daß die „Vernunft” ihrer immer stärker verfallenen Beziehungen nur die Vernunft eines Traumes ist. Es ist das Nebenprodukt einer gemeinsamen nicht zutreffenden Wahrnehmung, ein gemeinsamer Alptraum.«

(II) »Erstens, man muß klar erkennen, daß die Botschaft der Abschreckung begrenzt und spezifisch ist. Sie lautet nicht „Du sollst mich nicht angreifen” und sie lautet nicht „Du sollst Dir nicht mehr Waffen anschaffen”. Die Botschaft ist sehr simpel: „Du sollst mich nicht morgen angreifen” und sie lautet „Wenn Du Angst hast (und ich versuche tatsächlich, Dir Angst einzujagen), solltest Du Dich so schnell wie möglich bewaffnen.”

(In der Geheimnistuerei bei diesem Geschäft steckt ein lächerliches Paradox. Das wirkliche Geheimnis betrifft nicht die Waffen, die wir haben. Das wirkliche Geheimnis betrifft die Waffen, die wir nicht haben!).
Aber der Trick in diesem ganzen Geschäft, der das, was wir tun, als „übel” und „tödlich” im Sinne der Sieben Todsünden identifiziert, ist die Kopplung an Zeit. Es ist vielleicht eine böse Handlung, Waffen herzustellen — es ist eine üble Handlung, Waffen herzustellen und sich an einem Prozeß zu beteiligen, der zu Mißtrauen und Krieg führt.
„Führe heute oder morgen keinen Krieg” ist schon ganz gut, aber diese Botschaft muß immer den tieferliegenden Stich des Mißtrauens und die Langzeitaussage mit sich tragen — „Mache den Krieg nächste Woche oder nächstes Jahr effektiver.” Die Sünde der Aufrüstung bietet anderen einen Anlaß in der Art eines letzten Grundes und eben dies macht sie tödlich.«

(III) »Im besonderen Fall der Atomwaffen stört es den Planeten nun vielleicht nicht, daß wir und die Russen unser Zerstörungspotential fleißig vergrößern. Es ist schon so groß, daß wohl nur ein kleiner Teil bei der großen Katastrophe zum Einsatz kommt. Die Verrücktheit liegt darin, in den Rüstungswettlauf zu geraten und dabei zu bleiben.

Aber es ergibt keinen Sinn, einen Rüstungswettlauf zu verlieren. Ich warnte [Edward] Teller neulich, daß eine Regierung, die dumm genug war, in den Rüstungswettlauf zu geraten, auch dumm genug sein könnte, ihn zu verlieren.

Die Schwäche von SALT II, die Teller so erschreckt, ist vermutlich eine Folge unseres Wissens über unser eigenes ständiges Rüsten und der Russen über das ihrige. Hinter der Idee der Abschreckung höre ich immer die Vermutung, daß der nächste Krieg ein atomarer Holocaust sein wird und daß wir ihn verlieren; und ich höre diese krankhafte Notwendigkeit, diese Prophezeiungen wahr werden zu lassen.

Egal, es ist sicher falsch und wohl auch fatal, sich nur halbherzig entweder für den Krieg oder den Frieden zu engagieren. Wählst Du den Weg der „Abschreckung”, dann mußt Du diesem Weg konsequent folgen, bis Du seine Aussichtslosigkeit entdeckst. W. Blake hatte einen bitteren Spruch: „Würde der Narr auf seiner Narrheit bestehen, er würde weise werden.”

Selbst wenn die Philosophie der Abschreckung leer und eine drohende Haltung auf Dauer vergeblich ist; selbst wenn es so ist, dann sollten die Mächte, die diesen Lauf wählen, nicht daran gehindert werden: Nicht weniger als die totale Verpflichtung kann dann wirken!

Und das gleiche gilt für das Vorhaben, aus dem Wettrüsten heraus zu kommen. Nur völlige Ehrlichkeit und völlige Verpflichtung für den Weg des Friedens reichten aus. Teilnahme an SALT-Verhandlungen hat nur dann einen Sinn, wenn man klar sieht, daß die Eskalation stärker ist als wir. Aus dem Wettrüsten aussteigen ist nicht so schwer oder komplex. Alles, was erforderlich ist, ist, um Elliotts herzzerreißende Worte zu benutzen:
„Eine Bedingung vollständiger Einfachheit (kostet nicht weniger als alles andere). Und alles wird gut werden.”«

Anmerkung (1)

Formaler ausgedrückt, gleichen sich symmetrische und komplementäre Schismogenese in ihrer grundlegenden Struktur und unterscheiden sich lediglich in ihren Zeichen. In jedem Falle erfolgt die Reaktion auf einen wahrgenommenen Unterschied zwischen den Opponenten. Wird dieser Unterschied in Ausdrücken der Stärke verstanden, ist die Reaktion bei symmetrischer Schismogenese positiv oder aggressiv hinsichtlich der größeren Stärke des anderen. Bei komplementärer Schismogenese gilt das Umgekehrte. Vgl. mein „Naven”, Stanford University Press, 1958.

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Ein Kommentar

  1. Rolf Todesco sagt:

    Gregory Bateson interessierte sich nicht sehr für seine Sprache. Er ging sehr davon aus, dass er schon richtig verstanden würde. Wo er “wir” sagte, muss der Hörer entscheiden, wen er meinte. Mir beispielsweise ist sinnenklar, dass die Amerikaner und die Russen nicht für oder gegen ein Wettrüsten sind. Bestimmte Amerikaner können dafür oder dagegen sein. Mir ist auch klar, dass eine Nation ohnehin keine Haltung und keine Angst haben kann. Ich weiss aber natürlich nicht, was G. Bateson meinte.
    Wenn sich jemand auf G. Bateson beruft, muss er entweder wissen, was G. Bateson mit dem Geschriebenen meinte, oder er muss meinen, dass er dasselbe gemeint haben muss, wie er selbst. Was G. Bateson gemeint hat, ist in sehr vielen Fällen unerheblich, weil man ihn nicht fragen kann. Und natürlich kann ich auch nicht wissen, was Tom Levold wirklich meint.
    Aber ich kann sehen, dass von einem WIR die Rede ist, das keinerlei Referenzobjekt hat: WIR wollen gar nicht, was jeder von uns will, müsste jeder von sich sagen.

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