Wie schon berichtet, ist Helm Stierlin am 9. September dieses Jahres gestorben. Seine langjährigen Mitarbeiter und Freunde Fritz B. Simon und Gunthard Weber haben auf der website des Carl-Auer-Verlags Nachrufe auf ihn veröffentlicht, die hier verlinkt sind. Wolf Ritscher, der sehr früh zu Helm Stierlins Studenten gehörte und über die Jahrzehnte immer in Kontakt mit ihm war, hat für systemagazin einen ausführlichen Nachruf verfasst, der heute hier neben einigen anderen Würdigungen zu lesen ist.
Wolf Ritscher, Unterreichenbach: Helm Stierlin (1926 – 2021): Ein Blick zurück
Am Donnerstag den 9. September hat Helm Stierlin im Alter von 95 Jahren unsere Welt verlassen. Er betrat sie am 12.3.1926, als ältester von drei Brüdern und diese Geschwisterkonstellation war ein ihn prägendes Muster. Wie er von 1974 bis 1991 das Team im Institut für Familientherapie in der Heidelberger Mönchhofstraße geleitet hat, war sicherlich auch ein in seiner Herkunftsfamilie gelebtes Muster: der ältere Bruder, der die Verantwortung für die jüngeren übernimmt, sie dabei unterstützt, ihren eigenen Weg zu finden und dabei selbst in der eigenen Entwicklung vorankommt. Hier zeigt sich schon das Konzept der familiären Koevolution, das Helm Stierlin immer so wichtig war. Schwestern hatte er keine, und da die Mutter ihm in der Jugendzeit innerlich fern blieb, waren es die Brüder und der oft abwesende Vater, mit denen er in einer inneren Verbindung stand. Später konnte Helm Stierlin auch die Ressourcen und positiven Seiten seiner Mutter würdigen: sie wollte Ärztin werden, und durfte es nicht, weil sie ein Mädchen war. So wurde sie Künstlerin und ging als eine Verfechterin weiblicher Selbstständigkeit in einer immer noch patriarchalisch geprägten Welt ihre eigenen Wege. Und sie hielt die Familie nach dem Tod des Vaters und eines der Brüder zusammen, bis alle wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Helm Stierlin musste früh selbstständig und selbstverantwortlich werden und in dem Desaster des (glücklicherweise) untergegangenen „Dritten Reiches“ und der Zeit danach seinen Platz im Leben finden. Das war nicht einfach, denn der für ihn emotional wichtige Vater tötete sich in den letzten Kriegstagen selbst. Dass es eine Selbsttötung war, enthüllte ihm die Mutter erst 35 Jahre später. Wir sehen schon an diesen familiendynamischen Stichworten, dass Stierlins Wahl, zunächst für die Psychoanalyse, dann während seiner Jahre in den USA (1955 bis 1974) für die Familiendynamik und Familientherapie, auch mit seiner eigenen Herkunftsfamilie verbunden war. Diese Verknüpfung von Herkunftsfamilie und professioneller Biographie hat seine Frau Satuila in ihrem Buch „Ich brannte vor Neugier“ an Hand vieler PionierInnen der Familientherapie beschrieben.
Helm Stierlin ist in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland groß geworden. Als den Nationalsozialisten 1933 von der rechten Kamarilla um den Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg die Macht übergeben wurde, war er noch nicht ganz sieben Jahre alt. Als dieser Schrecken endlich unterging, war er mit gerade 19 Jahren schon Soldat. Diese Zeit war in vieler Hinsicht wichtig für ihn. Er war nie ein politischer Aktivist gegen rechtsradikales und nationalistisches Gedankengut im Nachkriegsdeutschland, aber er hat sich immer wieder
historisch, psychologisch, philosophisch und therapeutisch mit dem Nationalsozialismus auseinander gesetzt. Schon über seinen Lehrer Karl Jaspers, bei dem er ab dem Wintersemester 1946 in Heidelberg Philosophie studierte, war er für dieses Thema sensibilisiert. (Jaspers war von den Nationalsozialisten von der Universität vertrieben worden und hatte schon 1946 ein Buch über „Die Schuldfrage“ der Deutschen veröffentlicht.) 1975 brachte Stierlin das Buch über Adolf Hitler heraus, 1979 wurde im Heidelberger Stadttheater das emotional aufwühlende Ballett „Familiendialog“ von Johannes Kresnik auf die Bühne gebracht, für das Stierlin das Libretto schrieb und 1982 erschien sein Artikel über den „Dialog zwischen den Generationen über die Nazizeit“ in der Familiendynamik. In diesem Artikel beschrieb er die Therapie mit einer Familie, deren Sohn die Eltern mit ihrer Nazigeschichte konfrontieren will, an ihrem Widerstand scheitert und sich dann selbst tötet. Das Libretto zum „Familiendialog“ basiert auf dieser Geschichte.
Die Heidelberger Jahre von 1946 bis 1954 bezeichnete er als den „Beginn einer langen Selbstfindung“, ein Herauslösen aus der Jugendzeit in der Familie, aus dem NS-Deutschland und seiner Dienstverpflichtung als Soldat.
Er vereinte die Delegationen seiner beiden Eltern. Dem Vater folgend setzte er sich mit Philosophie und Geschichte auseinander und begann 1946 seine Heidelberger Universitätsjahre mit dem Studium der Philosophie. Im Wintersemester 1947 immatrikulierte er sich auch für das Medizinstudium – ein Wunsch der Mutter, die selbst auch gern Medizin studiert hätte.
In dieser Zeit werden schon zwei markante Charakteristika seiner professionellen Existenz deutlich: Die große Neugier auf interessante, den wissenschaftlichen Diskurs bereichernde Menschen, Theorien, praktische Konzepte und die in all seinen Publikationen auffindbare Verbindung von Philosophie/Erkenntnistheorie, Psychiatrie und Therapie.
In Heidelberg, bekam er u.a. Kontakt zu dem Philosophen und Psychiater Karl Jaspers, dem Nationalökonomen Alfred Weber und dem Psychoanalytiker und Leiter der psychosomatischen Klinik der Universität, Alexander Mitscherlich. Mitscherlich hatte zusammen mit Fred Mielke den Nürnberger Prozess 1946/47 gegen führende Mediziner des „Dritten Reiches“ beobachtet und in dem Buch „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ bzw. „Medizin ohne Menschlichkeit beschrieben. Für seine schonungslose Beschreibung der Verstrickung der deutschen Medizin in das NS-System wurde er in der deutschen Nachkriegsärzteschaft heftig angefeindet und als „Nestbeschmutzer“ diffamiert.
1956 wurde Stierlin Assistenzarzt in der Münchner Universitätspsychiatrie. Deren Direktor, Kurt Kolle, schätzte er als Chef und als Menschen, der sich der NS-Medizin widersetzt hatte, er kritisierte aber dessen Umgang mit seinen PatientInnen. In dieser kritischen Sicht wurden schon die ersten Ansätze eines Konzeptes der auf positiver Gegenseitigkeit beruhenden therapeutischen Beziehung deutlich, dem Stierlin während seiner ganzen therapeutischen Entwicklung verpflichtet war.
1955 zog es Helm Stierlin in die USA. Er erhielt eine Stelle an der für die psychoanalytische Psychosentherapie bekannte Klinik Chestnut Lodge in Maryland, deren Konzepte von zwei legendären Persönlichkeiten der US-amerikanischen Psychiatrie geprägt waren: Harry Stack Sullivan und Frieda Fromm Reichmann, die Ärztin Dr. Fried in Hanna Greens Heilungsbericht „Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen“. Hier begann er noch als Psychoanalytiker und zugleich eröffnete sich an diesem Ort der Weg für seine Transformation hin zum Familien- und später systemischen Familientherapeuten. Den ganzen institutionellen Kontext dieser Wandlung kann man in dem Buch „Wer ist aus Holz“ seines damaligen holländischen Kollegen Jan Foudraine nachlesen.
Er lernte nun die ganzen Größen der sich damals in den USA rasant entwickelnden Familientherapie kennen – Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Don D. Jackson, Murray Bowen, Jay Haley, Viginia Satir, Norman Paul, Salvador Minuchin und viele andere. Mit einigen von ihnen entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, vor allem mit Lyman Wynne, Ivan Boszormenyi-Nagy und Theodore Lidz.
Von 1962 – 64 unterbrach Helm Stierlin seine amerikanischen Jahre und kehrte für zwei Jahre nach Europa zurück. Ursprünglich sollte er Oberarzt bei Gaetano Benedetti werden, einem der nicht sehr zahlreichen europäischen Psychoanalytiker, die sich damals dezidiert mit der Psychotherapie bei Psychosen beschäftigten. Dessen langwierige Erkrankung verhinderte das und so wurde er von Wolfgang Binswanger, dem Sohn und Nachfolger von Ludwig Binswanger, dem Begründer der existentialistischen Psychiatrie, im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen engagiert. 1964 lernte er in einem psychoanalytischen Seminar seine spätere Frau Satulia kennen und lieben, eine Schweizer Psychologin, die u.a. bei Jean Piaget, einem großartigen Entwicklungspsychologen und Vorbereiter einer systemischen Erkenntnispsychologie in Genf studiert hatte. Beide heirateten schon im folgenden Jahr. Mit ihr und den beiden Töchtern Larissa und Saskia entstand nun eine weiblich geprägte familiäre Lebenswelt, die er aus seiner Herkunftsfamilie so nicht kannte. Hier half ihm sicherlich, dass er in der Beziehung zur Mutter gelernt hatte, mit selbstbewussten Frauen umzugehen.
1966 kehrte Helm Stierlin mit seiner neuen Familie in die USA zurück und erhielt eine Stelle am National Institute of Mental Health (NIMH) in Bethesda, eine der wichtigsten Forschungseinrichtungen für die seelische Gesundheit/Krankheit in Nordamerika. Dort arbeitete er mit Lyman Wynne zusammen, der gemeinsam mit Margret Thaler Singer die schizophrenen Denkstörungen im Kontext familiärer Kommunikationsmuster untersuchte. Mit ihm verband ihn seit jener Zeit eine lebenslange Freundschaft. In dieser zunächst stimulierenden Umwelt entfaltete Stierlin seine ganze Kreativität und Schaffenskraft. Eine Vielzahl grundlegender Artikel entstand, von denen viele auch in dem 1975 erschienenen Sammelband „Von der Psychoanalyse zur Familientherapie erschienen sind. 1969 publizierte er sein erstes Buch „Conflict and Reconciliation. A Study in Human Relation and Schizophrenia“, an dem er mehrere Jahre gearbeitet hatte. Hier beschrieb er familiäre Konflikte und therapeutische Lösungswege („Versöhnung“), eingebettet in einen von Hegels Dialektik beeinflussten theoretischen Rahmen. Diesen Weg verfolgte er weiter mit dem 1971 erschienen Buch „Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Versuch einer Dynamik menschlicher Beziehungen“, das ihn auch in Deutschland bekannt machte. Auch hier ist Friedrich Wilhelm Hegel der philosophische Wegbereiter für Stierlins dialektische Kommunikationstheorie. All diese Texte zeigen ihn als einen Meister des Wortes. Mit einprägsamen Metaphern wie „Delegation“, „Bindung und Ausstoßung“, „bezogene Individuation“, „Unter- und Überindividuation“, „zentrifugale und zentripetale Systemkräfte“,“ positive und negative Gegenseitigkeit“, „Beziehungsfalle“, „maligner Clinch“ brachte er kommunikative Prozesse in der Familie auf den Punkt. Überhaupt zeigt er in seinen Schriften eine bewundernswerte Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge verständlich nachzuzeichnen, ohne diese zu simplifizieren.
Die Jahre im NIMH fielen zusammen mit der Entwicklung der Familientherapie insgesamt: Es entstand im Sinne von Thomas S. Kuhn ein neues Paradigma, das die individuumzentrierte Sichtweise auf psychische Probleme durch eine psychosoziale und dann systemische Sichtweise ablösen sollte. Dass dies bis heute in der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie nur teilweise erfolgt ist, zeigen u.a. die gegenwärtigen Diskussionen über Diagnoseschlüssel, Abrechnungsverfahren und die Bevorzugung des therapeutischen Einzelsettings im deutschen Gesundheitswesen. Da sich Stierlin in dem vor allem durch quantitative Methoden geprägten Forschungsklima zunehmend unwohl fühlte, suchte er nach einem neuen institutionellen Kontext und fand ihn. Walter Bräutigam, Direktor der psychosomatischen Klinik an der Universität Heidelberg, Nachfolger von Alexander Mitscherlich und selbst Psychoanalytiker, erreichte es, dass im Rahmen seiner Klinik eine „Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie“ etabliert wurde. Auf die Leitungsposition, die zugleich mit einer Professorenstelle verbunden war, wurde Helm Stierlin berufen. Hier konnte er sein eigenes Forschungskonzept etablieren. Dieses beinhaltete einerseits eine Theoriebildung, die u.a. aus den Quellen der Philosophie, phänomenologischen Psychiatrie, Psychoanalyse und Familiendynamik schöpfte. Die Empirie bestand weniger aus quantitativ-statistischen Forschungen. Im Vordergrund stand die klinische Kasuistik, mit deren Hilfe sowohl die theoretischen Hypothesen als auch die konkrete therapeutische Praxis weiterentwickelt wurden. Dies war im Großen und Ganzen eine qualitative, klinisch-hermeneutische Forschungsrichtung, im Gegensatz zu den hauptsächlich empirisch-quantitativ ausgerichteten Forschungsprogrammen der akademischen Psychologie und zunehmend auch der Psychiatrie.
Wichtig wurde auch die Vermittlung der neuen therapeutischen Konzepte sowohl in der universitären Lehre, im Rahmen von Kongressen bzw. Tagungen und durch eine Vielzahl von Weiterbildungsangeboten für die klinischen PraktikerInnen.
So kehrte Helm Stierlin mit seiner Familie nach Deutschland zurück. Ein neuer privater und beruflicher Lebensabschnitt begann und das Institut in der Heidelberger Mönchhofstraße wurde neben der Göttinger Gruppe um Eckhard Sperling, der Gießener Gruppe um Horst Eberhardt Richter, der Wiener Gruppe um Hans Strotzka und der Züricher Gruppe um Jürg Willi und Joseph Duss-von Werdt zu einer der maßgeblichen Entwicklungsstätten für die Familientherapie im deutschsprachigen Raum.
Die unauffällige Haus im Heidelberger Stadtteil Neuenheim wurde zu einem Anziehungspunkt für bekannte und unbekannte Menschen und Gruppen, die eines miteinander verband: Neugier für Ideen über das traditionelle psychiatrische und psychotherapeutische Denken hinaus, die Lust am Experimentieren mit praktisch-therapeutischen Konzepten, der Wunsch nach einer neuen Form familiärer und therapeutischer Beziehung.
Stierlin, auch ein erfolgreicher Netzwerker, lud seine Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt ein, ihre Theorien und Handlungsformen dort zu demonstrieren und dadurch auch die Heidelberger Konzepte weiter zu entwickeln. So entstand auch die Zusammenarbeit mit der Mailänder Gruppe (Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata) – und nach deren Auflösung weiter mit Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin. Nun wurde die Wende von einer eher psychoanalytisch geprägten zu einer den zirkulären Charakter von Kommunikation betonenden Familientherapie bis hin zur systemisch- konstruktivistischen Therapie eingeläutet. Neben der Zusammenarbeit mit den Mailändern waren es u.a. die Werke von Gregory Bateson und die Begegnungen mit Niklas Luhmann, Humberto Maturana, Francisco Varela und Heinz von Foerster, die diese Entwicklung stark beeinflussten.
Das Team um Helm Stierlin war immer klein – gemessen an seiner enormen Produktivität und es war immer männlich geprägt – womit wir wieder beim Muster der Kooperation unter Brüdern aus Stierlins Herkunftsfamilie angekommen wären. Nacheinander arbeiteten dort SystemikerInnen, deren Name auch heute noch signifikant sind für die familientherapeutische, systemische und hypnotherapeutische Landschaft: u.a. Michael Wirsching, Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch, Gunthard Weber, Fritz Simon, Gunther Schmidt, Arnold Retzer und Jochen Schweitzer. Stierlin ermöglichte ein Arbeitsklima, das durch Kooperation und Eigen-Sinn geprägt war, und in dem jeder seine ganze Kreativität und Neugierde entfalten konnte. So waren auch die Konkurrenzdynamiken gut eingebettet und dienten der Entwicklung, nicht der Beeinträchtigung des Systems. Frauen blieben im Team immer in der Minderzahl. Das zeigte sich auch daran, dass die Gender-Perspektive in Stierlins Arbeiten keinen besonderen Platz erhielt. Aber gerade das motivierte Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen, diese neue Sicht auf familiäre Themen und Konflikte auch im Feld der Heidelberger Gruppe zu betonen, z.B. in ihrem für die Entwicklung der systemischen Familientherapie so wichtigen Buch „Balanceakte. Familientherapie und Geschlechterrollen“. Stierlin unterstützte diese Sicht zwar nicht offensiv, aber er ließ sie zu und wertete sie nicht ab, ganz nach seiner Haltung, dass jeder seinen Weg gehen solle und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen hat.
Die „Heidelberger Gruppe“, wie sie auch von Stierlin selbst genannt wurde, entfaltete eine rege Forschungs-, Publikations- und Seminartätigkeit. Sie war fokussiert auf bestimmte „verstörende“ Verhaltensweisen der familiären IndexklientInnen (u.a. Anorexie, Depression, Psychosen, Psychosomatosen) und deren Zusammenhang mit der familiären Kommunikation. Was mir immer zu kurz kam war der theoretische und systematische Bezug auf den gesellschaftlichen, sozialen Kontext der Familiendynamik und der sich in ihr konstellierenden „Verstörungen“ (ein Begriff von Maturana). Armut-Reichtum, Arbeitslosigkeit, der Einfluss der kapitalistischen Konsum- und Konkurrenzgesellschaft auf Familienbeziehungen und vieles mehr blieben theoretisch immer marginal. In der ewigen Kontroverse zwischen einer wieder zunehmend biologisch ausgerichteten Psychiatrie und dem auf Kommunikationsprozesse, Umwelten und intrapsychische kognitiv-emotionale Netze focussierenden psychosozialen Ansatz hat Stierlin aber immer deutlich Stellung bezogen: die entscheidende Frage sowohl für die Genese als auch die Therapie sind die familiären Vermächtnisse, Delegationen und Beziehungsmuster. Und das ist eine Aufforderung an Kultur und Gesellschaft, die kommunikative Verantwortung für unsere eigene Lebens- und Beziehungsgestaltunggestaltung ernst zu nehmen.
Die Geschichte der Heidelberger Gruppe und die Geschichte der systemischen Therapie insgesamt ist eine Erfolgsgeschichte, an der Helm Stierlin einen wirkungsmächtigen Anteil hat. Er war in den professionellen Diskursen der aufstrebenden systemischen Therapie eine wichtige und allerorts gehörte Stimme. Als im Jahr 2002 einige seiner engsten MitarbeiterInnen und KollegInnen nach ernsthaften Konflikten das erste, 1984 von der Heidelberger Gruppe gegründete außeruniversitäre Weiterbildungsinstitut „Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie“ verließen und ein neues Institut gründeten, wählten sie dafür konsequenterweise den Namen – „Helm Stierlin Institut“.
Die Wende zu einer konstruktivistisch ausgerichtet systemischen Therapie wäre ohne die Mitglieder in Stierlins Team nicht möglich gewesen. Er war sicherlich (neben Fritz Simon) der philosophische Kopf des Instituts, aber es war das ganze Team, das immer wieder therapeutisch-praktisches Neuland betrat, erkundete und mit einer bewundernswerten Eleganz einen „Entwicklungstanz“ zusammen mit den IndexklientInnen und ihren Familien inszenierte. Stierlin hielt aber weiter auch an seinen familiendynamischen Konzepten wie der Delegation, der mehrgenerationalen Loyalität und der „bezogenen Individuation“ fest. Diese mit dem Konstruktivismus zu verknüpfen gelang ihm, weil er als an Hegels Denken geschulter philosophischer Therapeut dialektisch denken und Widersprüchliches „versöhnen“ konnte. Er war eben kein Dogmatiker und konnte auch unterschiedliche Perspektiven, Beschreibungen, Erklärungshypothesen und Lösungswege nebeneinander bestehen lassen.
Es gibt noch einen anderen wichtigen Beitrag von Helm Stierlin für die Entwicklung der Familien- und systemischen Therapie. Das ist die Gründung und zwanzigjährige Co-Herausgeberschaft der Zeitschrift „Familiendynamik“ zusammen mit dem Schweizer, Familientherapeuten, Mediator, Theologen und Philosophen Joseph Duss-von Werdt. Beide ergänzten sich in wunderbarer Weise und schufen mit ihr die jahrzehntelang führende Zeitschrift für die Familien- und Systemtherapie im deutschsprachigen Raum. Sie legten die großen thematischen Linien der Zeitschrift gemeinsam fest, Sepp knüpfte und hielt die Verbindung mit den zahlreichen, auch potentiellen AutorInnen und Helm wusste immer, welche neue Ideen und Newcomer im Feld der Wissenschaft und Praxis zu finden waren. Beide waren seit ihrer gemeinsamen Herausgeberschaft eng befreundet – was auch der Zusammenarbeit zu Gute kam.
Durch die „Familiendynamik“ wurden neue theoretische und therapiepraktische Entwicklungen dargestellt, kommentiert und diskutiert. Ihre maßgeblichen RepräsentantInnen wurden durch ihre Texte bekannt gemacht. Ihr Einfluss nicht nur auf die Theorieentwicklung sondern auch auf die systemische Praxis war und ist unübersehbar. Ich erinnere mich daran, wie oft ich nach der Lektüre des neusten Heftes darauf Bezug nehmend an meiner eigenen Therapiepraxis „herumgefeilt“ habe.
1991 wurde Helm Stierlin emeritiert. Eine neue Phase des Lebens begann. Zunächst blieb er weiterhin therapeutisch, literarisch, als Seminarleiter und Referent auf Tagungen aktiv. Im neuen Jahrhundert begann der sukzessive Rückzug aus dem öffentlichen Leben, der für ihn nicht einfach war. Aber er auch verbunden mit einer verstärkten Hinwendung zur eigenen Familie, seiner Frau Satu, seinen beiden Töchtern Larissa und Saskia und den Enkelkindern. Helm und Satu waren für viele ihrer FreundInnen und professionellen WegbegleiterInnen ein Beispiel dafür, dass eine über viele Jahrzehnte bestehende Lebenspartnerschaft auch im fortgeschrittenen Alter noch neue Möglichkeiten der Gemeinsamkeit eröffnet. Wenn wir uns in ihrer gemütlichen Wohnung in Neuenheim trafen, war ich oft berührt von der tiefen Zuneigung und unbedingten Solidarität zwischen beiden.
Er war dankbar für das, was ihm das Leben geschenkt hatte, für die Zuneigung seiner Familie, für die Freundschaften mit Menschen, die wie er therapeutisches Neuland erkundet hatten und zufrieden, dass er Anteil hatte an der Entwicklung der systemischen Theorie und Praxis. Dem immer näher kommenden Ende dieses reichen Lebens begegnete er mit Ruhe und Gelassenheit: er konnte Abschied nehmen.
In den letzten Jahren zog sich Helm Stierlin zunehmend in eine ganz eigene Welt zurück. Aber immer wieder war ein punktueller Kontakt möglich. Selbst in den letzten Lebensmonaten war das noch erfahrbar: Betraten befreundete Menschen seine Welt, dann huschte ein Lächeln der Freude und des Willkommens über sein Gesicht.
Dieses Lächeln bleibt, wie so vieles andere in meiner Erinnerung erhalten, auch über seinen Tod hinaus.
Jürgen Kriz, Osnabrück:
95 Jahre – wow ! – was für ein Alter, was für ein Lebenswerk! Und obwohl nach menschlichem Ermessen damit zu rechnen war, dass Helm Stierlin uns physisch verlassen würde, stimmt (mich) die Nachricht von seinem Tode traurig-nachdenklich. Bereits in der 1. Auflage der „Grundkonzepte …“, 1984, konnte ich seine Beiträge (Stierlin I: (analytische) Familientherapie, Stierlin II: (strategische) Systemische Therapie) ausführlich würdigen, obwohl ich ihm erst später (und dann etliche Male) direkt begegnet bin. Es waren stets angenehme Begegnungen, bei denen ich stets den Eindruck hatte, dass wir uns – jenseits des „small talks“ – wirklich verständigen konnten. Seine beeindruckende Leistung für die Systemische Psychotherapie (in weitem Sinne) wurde und wird für mich allein schon daran deutlich, wie viele seiner „Schüler“ sowohl bekannt geworden sind als auch – und bis heute – stets mit großer Wertschätzung von Helm und seinem Einfluss auf ihre Biographie sprechen. Ein großer Wegbereiter der Systemischen Therapie ist nun von uns gegangen – aber was kann man sich als Mensch, Wissenschaftler und Therapeut mehr wünschen, als auf diese Weise in so vielen Herzen und Gedanken weiter zu leben.
Martin Rufer, Bern:
Das Leben und Werk von Helm Stierlin, einem wahren Humanisten, zu würdigen, steht mir nicht zu. Sind es doch die zahlreichen Weggefährten, KollegInnen, SchülerInnen, die die aus berufenem Munde schon getan haben und noch weiter tun werden. Sicher aber ist, dass die Systemische Therapie/Familientherapie im deutschen Sprachraum ohne Helm Stierlin nicht bzw. so nicht geworden wäre. Inzwischen lichten sich die Reihen der Pioniere und offen bleibt, ob und wie sich unter veränderten gesellschafts- und gesundheitspolitischen Bedingungen die „Demokratisierung der Therapie“ (Stierlin), die „Autonomie in Verbundenheit“ (Stierlin) und darin eingebunden die Therapie in und mit Familien weiterentwickeln wird. Dass ich selber durch die Geburt der frühen Stunde auch ein bisschen Teil dieser Geschichte sein durfte, dies erfüllt mich zum einen mit grosser Dankbarkeit, aber auch mit etwas Wehmut.
Luc Ciompi, Belmont (CH):
Helmut Stierlin hat uns verlassen, und das ist für alle, die die Entfaltung des „systemischen Paradigmas“ im deutschen Sprachbereich – und weit darüber hinaus – seit Jahrzehnten aus der Nähe miterlebt haben, ein überaus schmerzlicher Verlust. Mit seinem brillanten Verstand, seiner Kreativität, seinem breiten Wissen, seiner Erfahrung und, vor allem, mit seiner tiefen Menschlichkeit war Helm uns von allem Anfang an bis heute ein leuchtendes Vorbild. Wir danken ihm für alles,was er uns gegeben hat, und werden ihm in unseren Herzen ein unzerstörbares Andenken bewahren.
Rudolf Klein, Merzig:
Helm Stierlin ist tot. Über seine Verdienste für die Entwicklung der systemischen Therapie wurde schon viel geschrieben. Da muss ich nichts wiederholen und kann vermutlich auch nichts Neues dazu beitragen.
Für mich war Helm Stierlin wichtig, weil er einer der prägendsten Menschen auf meinem bisherigen professionellen Lebensweg war.
In einem kleinen Beitrag zum Adventskalender im hatte ich 2011 unter dem Titel „Eine indirekte Begegnung“ einen kleinen Text beigesteuert, der die Initialzündung für meine systemische Entwicklung beschrieb. Mir war in meiner ersten Arbeitsstelle (1980) zufällig eine Ausgabe der FAMILIENDYNAMIK (1976) in die Hände gefallen und ich verstand von den meisten Artikeln nichts. Ich schrieb: „Gerade wollte ich das Heft frustriert wieder in einem der verstaubten Kartons versenken – da geschah es: Ich blätterte den zweiten Artikel durch. Er behandelte die Frage: Einzel- oder Familientherapie? Der Autor beschrieb Überlegungen, wie ein Zusammenhang zwischen einer individuellen Symptomatik und der familiären Dynamik hergestellt werden kann. Und damit nicht genug. Dieser Autor verwendete, wie er schrieb, „sein“ Konzept der Interaktionsmodi von Bindung, Delegation und Ausstoßung, um die Verbindung zwischen individueller und familiärer Dynamik differenziert darzustellen. Darüber hinaus stellte er auch noch Überlegungen an, unter welchen Bedingungen eher ein einzeltherapeutisches Setting und wann eher die Einbeziehung der Familie aussichtsreicher für den Erfolg einer Therapie sein könnte. Ich war elektrisiert! Endlich hatte ich etwas gefunden, von dem ich sofort wusste, dass ich mehr davon erfahren, mehr davon verstehen wollte – und zwar in einer Entschiedenheit, wie ich sie vorher in Bezug auf fachliche Themen niemals erlebt hatte.“ Der Autor war Helm Stierlin. Über die Jahre hinweg bin ich Helm Stierlin und seiner Frau Satu gelegentlich begegnet. Wir hatten kurze und stets freundliche Gespräche. Meine Haltung war immer von einer gewissen Ehrfurcht geprägt. Und dann, kurz nachdem ich mein erstes Buch veröffentlich hatte, kam ein handschriftlicher Brief bei mir an. Helm Stierlin hatte mir geschrieben und zur Publikation des Buches gratuliert. Ich denke noch heute mit Freude an diesen Augenblick. Das erwähnte Heft der FAMILIENDYNAMIK hat genauso einen festen Platz auf meinem Bücherregal wie der Brief in einer Schublade meines Schreibtischs.
Und nun muss ich traurig zur Kenntnis nehmen, dass er gestorben ist. Für mich geht damit eine Epoche zu Ende. Es ist ein großer und schmerzlicher Verlust.
Kurt Ludewig, Münster:
Obwohl ich leider nur selten Gelegenheit hatte, Helm Stierlin persönlich zu begegnen, bin ich ihm in Hinblick auf meine professionelle Entwicklung für seine sehr wertvollen Impulse in Theorie und Praxis dankbar. Ohne zu seinem Team zu gehören, bin ich ihm zudem dankbar, dass er dennoch meine Beiträge geschätzt hat, was nicht zuletzt in seiner Einladung zu seinem legendären Seminar an der Heidelberger Universität wie auch in seinem anerkennenden Vorwort zu meinem ersten Buch zur systemischen Therapie zum Ausdruck kommt. Unvergessen, wohl eher anekdotisch bleibt mir in Erinnerung, dass er bei zwei verschiedenen Gelegenheiten meine damals sehr jung aussehende Frau als meine Tochter angesprochen hat, beim letzten Mal bekam er dafür sogar einen Tritt von seiner Tochter unter dem Tisch. Mit Helm Stierlin geht der letzte der Pioniere der systemischen Therapie; er belegt einen wichtigen, unauslöschbaren Platz auf der Ahnentafel unserer Zunft.
Lothar Eder, Mannheim: Wohlbefinden mit Helm Stierlin
1990 trat ich eine Arbeitsstelle in einer Suchtberatungsstelle in Mannheim an. Meine Berührung mit der systemischen Therapie hatte mich zu diesem Umzug in die Kurpfalz inspiriert, irgendwie wollte ich näher am Puls der Heidelberger Schule sein.
Bei meinem neuen Arbeitgeber hatte ich mir ausbedungen, dass ich während der Vorlesungszeit einen Nachmittag frei bekam, um die offene Vorlesung Helm Stierlins besuchen zu dürfen. Die Ausflüge nach Heidelberg waren eine Wohltat für mich, da sich der neue berufliche Kontext als einengend und konfliktreich herausstellte. Zumindest einmal die Woche konnte ich also aufatmen in diesem wunderbaren alten Hörsaal in der Thibautstraßeund davor und danach am Neckar spazierengehen.
Es herrschte dort der freie akademische Geist, den ich noch aus meinen Studienjahren in den 1970ern kannte. Stierlin verstand es, alle möglichen Anekdoten in seine Ausführungen einzuflechten, z.B. von seinen Besuchen bei Gregory Bateson. Die Stimmung war heiter und leicht. Ein optimales Klima für Entwicklung. Meine damalige identifikatorische Begeisterung ging soweit, dass ich mir einen Lederblouson kaufte, der dem Stierlins ähnelte.
Ich erinnere mich an meine Bestürzung, als Helm Stierlin Jahre später emeritiert wurde und die Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie umbenannt und in ihrer Ausrichtung vollkommen neu aufgestellt wurde. Es fühlte sich damals so an wie der Verlust des Basiscamps.
Jahre später, ich hatte begonnen, mich auch theoretisch in die Psychosomatik zu vertiefen, stieß ich auf einen Artikel von Helm Stierlin zum Thema. Er trug den Titel „Wohlbefinden und Selbstregulation. Überlegungen zu einer systemischen Sozio-Psycho-Somatik“ und erschien in der Familiendynamik. Der zentrale Gedanke war die Formulierung eines Standards für seelische Gesundheit (formuliert als gelungene bezogene Individuation); das Ich solle nach Stierlin die Signale des Körpers lesen und seine Haltungen und Handlungen so gestalten, dass sich immer wieder Wohlbefinden einstellt.
Diese Sätze waren für mich eine Wohltat in einer systemischen Welt, die immer theorielastiger wurde und die alles Subjekthafte abzulehnen schien. Da kommunizierten nicht mehr Menschen, sondern die Kommunikation selbst.
Helm Stierlin, in dessen Schriften stets Bezüge zur Psychodynamik durchschimmerten, verstand es in einmaliger Weise, komplexe Zusammenhänge in verständliche Sätze zu fassen, in denen der Mensch als Subjekt im Zentrum stand und nicht anonyme Systeme. Das Wohlbefinden, eine radikal subjektive Kategorie, als zentralen Aspekt der psychosomatischen Selbstregulation einzuführen, zeugt von dieser schlichten Genialität. Der Begriff der Selbstregulation geht auf Claude Bernard zurück und sieht, gegensätzlich zur gängigen systemischen Betrachtungsweise, Homöostase als zentralen Orientierungspunkt von organischen Systemen an. So sah es wohl auch Helm Stierlin.
Gute Theorien sind einfach, davon bin ich persönlich überzeugt. Sie beschränken sich auf das Wesentliche. Diese Kunst beherrschte Helm Stierlin auf eine leichte und heitere Weise. Danke für Ihre reichen Inspirationen, lieber Helm Stierlin, und einen guten Weg in den Gefilden, in denen Sie sich jetzt bewegen und für die wir kaum Worte haben.
Günter Reich, Göttingen
Die Nachricht vom Tod von Helm Stierlins hat mich sehr getroffen. Seine bahnbrechenden Arbeiten und seine Bedeutung für das psychosoziale Feld in Deutschland werden an anderer Stelle sicher umfänglich gewürdigt werden. Hier ein paar persönliche Worte: Helm Stierlin hat mich mein ganzes bisheriges Berufsleben von Anfang an begleitet, mit seinen Publikationen, Vorträgen, Tagungen und vor allem durch persönliche Begegnungen. Seinen Namen hörte ich 1976 das erste mal. Er besuchte unsere Gruppe in Göttingen mehrfach, zu Vorträgen und Seminaren, führte in unserer Ambulanz Familiengespräche durch. Auch wenn er mit seiner dezidierten Hinwendung zur Systemischen Therapie und deren Weiterentwicklung eine andere Richtung einschlug als wir Göttingen mit unserem psychoanalytisch-mehrgenerational orientierten Ansatz, war er uns doch immer loyal verbunden, was sich unter anderem im fortbestehenden kollegial-freundschaftlichem Kontakt zu Eckhard Sperling, der Unterstützung von Manfred Cierpka in Heidelberg und einem treffenden Geleitwort zur Buchveröffentlichung meiner Habilitationsschrift zeigte.
Für die Bereicherungen durch seine Arbeiten und seine Person bin ich zutiefst dankbar.
Was für ein reiches Leben – was für ein reicher Nachruf.
Tief im Herzen berührt mich alles sehr –
Bilder tauchen kaleidoskopmäßig auf:
der Tanz von dem Ehepaar Stierlin einem kleinen Ballsaal des Heidelberger Schlosses – welcher Kongress war es? – der 1992 Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis.
Ich erinnere mich, dass ich dachte, ein gelebter systemischer Familientanz und freute mich.
Ja, die wunderbaren treffenden Wörter und deren Erweiterung des Blickfeldes: Individuation kann auch zu viel werden bzw. wenn die Delegation der Eltern fehlt – immer bei einem Bericht über die Straßenkinder konnte ich dies zutiefst spüren und dank der gefundenen Worte zumindest einsortieren und gerades deswegen auch in der Sozialarbeit umsetzen,- die Essenz ist: auch professionelle Delegationen können helfen.
Vorher die erste Bekanntschaft: Meine Diplomarbeit – „Verweigerungsstrategien von Kindern, um in familiären Konflikten zu überleben – ein sperriger Titel für eine damals sperrige Themenrelation: In unserer FH in München war Watzlawick damals schon der Hype an sich (natürlich berechtigt..) und so untersuchte ich die Kommunikationsaxiome und eben auch die Individuationstheorie – letztere lehnte ich als Lösungsmodell für meine Fälle ab, da ich sie vermeintlich als unsystemisch abtat, denn ich hatte nur das psychoanalytische herausgelesen – ein Fehler, der mich heute noch intellektuell ziemlich trifft. Mit den Jahren kann ich darüber auch mal schmunzeln, ja damals musste das Systemische / Familientherapeutische sich noch sehr streng abgrenzen, damit die jungen Pflänzchen auch wirklich zum Erblühen kommen konnten.
Wie schön der persönliche Lebensbezug noch einmal zu verdeutlichen und in den verschiedenen Phasen zu beleuchten: ja, alle und wirklich alle Helferinnen im Sozialbereich haben doch diesen Bezug, das ist ja die Profession an sich,, dass aus verschiedenen Erlebnisräumen immer eine Bereicherung ist..
Und dann die Psychiatrie selbst – ein unvergessenes Video mit einer „schizophrenen“ Familie , 2 Männer als Therapeuten (neben Helm Stierlin wohl Fritz Simon, den ich damals noch garnicht kannte), dazu Vater, Mutter, Sohn und Bruder – da habe ich gesehen, dass Familientherapie mit 2 Therapeuten geht, aber eben auch wohl dann mit 2 Frauen – diese Konstellation hat sich jahrelang in meinem Beruf mit meiner hochgeschätzten Kollegin sehr bewährt!
Und dann in meiner Familientherapieausbildung Ende der 80er Jahre , das neue Kennenlernen der analytischen Familientherapie mit Genogrammarbeit und all den anderen Juwelen – hier habe ich letztendlich mein professionelles Zuhause gefunden…
Was bleibt? So vieles – siehe oben
Ein ferner mitfühlender Blick zu der Familie von Helm Stierlin und eben großer Hochachtung und Verbundenheit
Evelyn Schwirkus