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Die Psychologie des Alltags

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Von der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus, einem Autorenkollektiv von Angehörigen und StudentInnen der psychologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, ist soeben im dgvt-Verlag ein Buch über Die Psychologie des Alltags erschienen. Es enthält viele bislang eher kursorisch aufzufindende Texte aus den 80er und 90er Jahren zum Sozialen Konstruktivismus. Auf der katastrophal schlechten Website des Verlages ist wenig über dieses Buch zu erfahren, man kommt nur über die leicht übersehbare Suchfunktion auf den Titel, der sich dann noch nicht einmal verlinken lässt. Ob es sich lohnt, sich mit diesen Texten auch heute noch auseinanderzusetzen, schreibt Wolfgang Loth in seinem umfangreichen Rezensionsessay.

Wolfgang Loth, Niederzissen: So fühlt sich Aufbruch an – oder ein Nachruf?

Das Buch

So fühlt sich Aufbruch an. Mit ungebremstem Enthusiasmus und einem unbedingten Willen zur Aufklärung hatte sich vor jetzt 35 Jahren die „Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung“ (im Folgenden kurz AG genannt) auf den Weg gemacht. Der Startschuss war ein Aufruf, den Ekkehard Müller-Eckhard im Oktober 1986 „An alle Arbeitseinheiten der Fakultät für Psychologie“ an der Ruhr-Uni Bochum adressierte. Als Gegenstimme zu der als wirklichkeitsfremd erachteten Mainstream-Psychologie bot er das „Abenteuer“ an, „die derzeitige kommunale Basis sozialen Wissens und Handelns in der Wissenschaft Psychologie zu verlassen und sich auf die Suche nach neuen Wegen zu begeben“[1]. Da freut sich der Rezensent (Psychologie-Diplom 1978). Inmitten der real existierenden angepasst-eingekauften, oft desillusionierenden Bestrebungen unserer Profession die Erinnerung an die Ausstrahlung von etwas Lebendigem! In ihrem kurzen Statement am Ende des Buches schreiben Manfred Wiesner und Lothar Duda, zwei Altgediente dieser Szene: „Ach, es war so wunderbar. Nicht wenig war in jenen Tagen wohltuend verstörend. Wo sind die Verstörungen heute?“ (S.348). Ja, where have all the flowers gone…?! Diese Brille, wird mir allerdings schnell klar, würde zu einem ungünstigen Blickwinkel für eine Rezension verleiten. Heute ist heute, hieß es schon gestern… Was kann ich also dazu sagen, heute, mit meiner Sicht der Dinge nach einem bewegten Arbeits- und Schreiber-Leben? Zu etwas, was seinerzeit Provokation war und heute eine womöglich verklärte Erinnerung? Und in welchem Zusammenhang, unter welcher Perspektive ist das Provokante heute noch aufregend?

Thorsten Padberg hat ein Vorwort geschrieben, darüber hinaus zu jedem Folgekapitel jeweils rahmende und zusammenfassende Einleitungen. Das steuert heutige Erfahrungen und Überlegungen zu den Texten bei, die zu verstehen sind als eine Auswahl aus Arbeitspapieren (AP), die seinerzeit in wenigen Jahren (1988-1992) entstanden. Die beiden Hauptüberschriften lenken die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Sprache („… und Kritik“; „… und Wirklichkeitsprüfung“). Die darunter versammelten Texte thematisieren eine grundsätzliche Kritik an der damals herkömmlichen Psychologie (AP 1), erkenntnistheoretische Probleme (AP 2), Konstruktivismus und Ethik (AP 6), Wirklichkeitsprüfung als sozial-konstruktivistische Forschungsperspektive (AP 10), sowie ausführliche Untersuchungen zu einzelnen Skripten: Beziehung (AP 8), Diskussion (AP 5) und „Macht“ (auch im Original in Anführungszeichen; AP 9). 

Padberg beginnt mit dem Satz: „Es muss eine Disziplin geben, die uns erklärt, wer wir sind“ (S.7). Diese Funktion weist er der Psychologie zu. Das geht, so scheint mir, nicht ohne Prämissen. Wenn Psychologie allein diese Funktion hätte, müsste sie gegenüber anderen Disziplinen ein entscheidendes Argument in der Tasche haben. Hat sie das? Zum Beispiel gegenüber Sozialwissenschaften, Anthropologie, Theologie, Literatur? Geht Wesensbestimmung via Psyche? Vielleicht zeigt sich hier (Vorsicht: Psychologisierung!) ein Wunsch danach, Psychologie möge mehr sein als die ausmessende, abgehobene, sophistische Angelegenheit, als die sie sich in ihrer akademischen Tretmühle herausgebildet hat. Einen solchen Wunsch fände ich sympathisch, er spräche mir aus der Seele. Er würde, selbst wenn er erst einmal nur auf das Fach Psychologie gerichtet ist, letztlich eine transdisziplinäre Perspektive anregen. Allerdings waren zu jener Zeit Tom Levolds Ideen zu einem transdisziplinären und multiprofessionellen Konzept eine noch nicht komponierte Zukunftsmusik[2].

Im Weiteren führt Padberg dann in das Programm der AG ein. Ein Ausgangspunkt war damals die Annahme, dass es neben „Anlage und Umwelt“ ein Drittes gebe, etwas Offenkundiges, nämlich „Gesten, die uns die Hand führen, wenn wir uns im Alltag zueinander verhalten“ (S.8). Im Wesentlichen führt diese Annahme die AG zu einem ausgeprägten Interesse für die Dynamik zwischen Sprachperformanz und Verhaltensmustern („Menschen versuchen in jeder Sekunde, den ‚Versprechungen der Sprache‘ zu entsprechen“, S.9). In dieser Dynamik, die aus Sicht der AG unser Alltagshandeln prägt, spielen „Skripte“ eine entscheidende Rolle. In den Papieren der AG sind Skripte definiert als „auf den Kontext und die Zeit (…) bezogene kleine Verhaltenseinheiten, Kurzdrehbücher, Rollenspielsegmente o.Ä., die mehr oder weniger automatisch abgespult werden“ (S.9). Es geht insofern um Arten spezifischer Handlungsanweisungen. Das Spezifische meint den jeweiligen „kommunalen“ Kontext (was sowohl Ort und Region bedeutet, diese wiederum jeweils umgerührt durch spezifische Ausprägungen von normativen Setzungen, Zeitgeist, Moden. Was aber auch spezifische Personengruppierungen bedeuten kann, Kommunikationszusammenhänge, Bezugsgruppen, Gemeinden). Das Elixier, in dem diese spezifischen Rezepturen für das jeweils passende (geforderte, angewiesene, erwartete) Verhalten vermittelt werden, ist Kommunikation. „Wirklichkeit“ als das, was aus den vielen, womöglich disparaten Varianten von Lebensauffassungen und -gestaltungen tat-sächlich Konsequenzen mit sich bringt, erweist sich aus solcher Perspektive als sozial konstruiertes Phänomen. „Sozialer Konstruktivismus“ ist insofern Zusammenfassung und Marke in einem.

Ein weiteres Merkmal funktionierender Skripte ist, dass sie innerhalb der geltenden Bezugsgruppe nicht nur den korrekten Ablauf von etwas erwartbar machen, sondern auch eine ausreichende Gewissheit andienen, die Person, die sich entsprechend verhalte und wie erwartet handele, meine es auch ernst damit. Skripte, so ließe sich vielleicht zusammenfassen, reduzieren die ansonsten unhandliche Komplexität des Miteinanders, regulieren den Verkehr, erlauben insofern Routine, und – um die Salutogenese-Kriterien zu bemühen – sorgen für Überschaubarkeit, Handhabbarkeit und Sinn. So weit so gut. Spannend und lebhaft wird das jedoch erst dadurch, dass genau diese, an sich ja hilfreiche Konstruktion „im richtigen Leben“ so anfällig für Enttäuschungen ist. Nicht nur das – die erlebten Enttäuschungen sind auch fast immer gut für Konflikte. Und erweisen sich somit als brauchbare Fortsetzungsbedingungen der Kommunikation. Daher finde ich es anregend, dass die AG für sozialen Konstruktivismus sich auch der sogenannten „Wirklichkeitsprüfung“ verschreibt. Ein wenig irritiert mich dann, dass der ursprünglich und grundsätzlich immer noch zum Gruppen-Namen gehörende Teil bei der gängigen Vorstellung weggelassen wird [3].

Als Ergebnis ihrer Arbeit sieht die AG „eine Psychologie des Alltags, eine ‚Wissenschaft von den Lebensäußerungen‘, die den Menschen wieder nahekommt“ (S.13). Die AG hat die Ergebnisse ihrer Forschung und Schlussfolgerungen ab den späten 1980er/ Anfang 1990er Jahren in 15 Arbeitspapieren veröffentlicht, später ergänzt um die Reihe „Bochumer Berichte“, sowie um eine Folge von „Abschied von …“-Texten, solchen zu „Neue Spielregeln der Ausbeutung“, „Dramoletten des Alltags“ oder zu „Sisyphos heute“[4].

Angriff

Mit ihrem ersten Arbeitspapier geht die AG gleich in die Vollen. In einer „Kritik der herkömmlichen Psychologie in 176 Thesen“ spießen sie die aus ihrer Sicht gängigen Dogmen der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie auf und setzen ihre Kritik dagegen. Das geht von „Menschenbild“ bis zu „Statistik“, spricht den Umgang mit sogenannten „Versuchspersonen“ an, und auch Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Das atmet erkennbar rebellischen Geist und die Kraft unverbrauchter Jugend, die sich aus den Fesseln vorschreibender Anpassung befreien will. Im Kern ließe sich der Angriff zusammenfassen als Kritik am nomothetischen Selbstverständnis psychologisch-wissenschaftlicher Forschung und als Plädoyer für die Befreiung vom definierenden Mittelwert, d.h. als Plädoyer für eine idiographisch fokussierende Psychologie. Das hat, wie alle ungestümen Aufbruchsbewegungen, teilweise etwas Holzschnitzartiges, Überspitzendes, da kommt es nicht immer auf die Feinheiten an[5]. Dennoch bleibt bei mir der Eindruck, dass dieses Plädoyer auch heute noch seinen Zweck erfüllen dürfte. Zwar gibt es in der praxisorientierten Psychotherapieforschung mittlerweile starke Zeichen einer idiographischen Ausrichtung[6], doch dürfte die akademische Psychologie das noch nicht in spürbarem Umfang mittragen. Die legitimierende Forschungsarbeit wäre zu aufwändig. Allerdings, und das finde ich schade, hätte auch die AG seinerzeit durchaus die Chance gehabt, sich nicht als einsame Kämpfer*innen auf weiter Flur zu stilisieren. Immerhin gab es damals schon die Arbeiten von Jürgen Kriz (z.B. 1981). Seine „Methodenkritik empirischer Sozialforschung“ brachte auch im Index eine deutliche Orientierung am „Alltagsleben“ zum Ausdruck. Inhaltlich übte er fundierte und verständliche Kritik an den verbreiteten Forschungsartefakten. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und „alltäglichen“ Interaktionen war da eine Grundlage (1981, S.39ff.). Ob die gegenseitige Kenntnisnahme damals die berühmte Synergie gefördert hätte, die ja heute so leicht in aller Munde ist?

Grundsätzliches – Erkenntnistheorie und Ethik

„Über das Verhältnis von Wirklichkeit, Sinnesdaten und Sprache“ heißt der Untertitel von AP 2 (1987), in dem erkenntnistheoretische Probleme der Psychologie angegangen werden. Die Bezugsgrößen und Wurzeln werden benannt, insbesondere der Wiener Kreis und Wittgenstein in seiner frühen und in seiner späten Fassung. Besondere Bedeutung erhält dann auch der heute vergessene Fritz Mauthner, dem hier ein kleines Denkmal gesetzt wurde. Seine Unterscheidung von adjektivischer, substantivischer und verbaler Welt lässt sich in praktische Beispiele übersetzen. Letztlich wird das Wittgenstein’sche „Sprachspiel“ zum Leitmotiv, das „Zusammenspiel von beidem, Sprechen und Verhalten in bestimmten Situationen“ (S.75). Das findet dann seine (damals) neueste Validierung in Gergens Arbeiten, die 1987 noch unter dem Namen „Soziorationalismus“ firmierte. Zusammengefasst bedeutet das, „jedes Sprachspiel als ein sozial konstruiertes und im Rahmen des jeweiligen Subsystems sozial rationales (d.h. für die „Zwecke“ dieses Subsystems in irgendeiner Weise funktionales) Modell zu begreifen und jede Fundierung einer Rationalität durch die Welt und ihre „wirklichen“ Strukturen abzulehnen“ (S.86). Und wie lässt sich ein „Wirkliches“ überprüfen, das es so (an sich) nicht gibt? Die Antwort: „durch einen kollektiven Prozess“ (S.86). Und als Bonmot wird Gergen zitiert (ich übersetze): „Wahrheit ist das Produkt einer Gesamtheit von Wahrheitsschaffenden“[7] (S.86). Und hier wird Feinarbeit nötig! Was seinerzeit eine Befreiung von normativen Zwängen und ideologischen Vereinnahmungen versprach, ist mittlerweile durch Leute wie Trump et al. korrumpiert und zu einer Maßnahme verkommen, Eigeninteressen auf dem Weg populistischer Steuerung zu sichern. Was bei Paul Dell, ebenfalls in den 1980er Jahren noch ein selbstkritisch reflektierter Ausgangspunkt „Auf dem Weg zur Klinischen Epistemologie“ war[8], ist mittlerweile zu einem Streitfall im Dunstkreis des Postfaktischen geworden[9]. So befreiend das Argument wirkt, Wahrheit pragmatisch als Ergebnis sozialen Aus-Handelns anzusehen, bleibt dieser Fokus doch ein Damoklesschwert, wenn nicht die Aufmerksamkeit für die dazu geltenden Regeln hinzukommt (etwa zu Transparenz, Reversibilität, Inklusion, Umgang mit „alternative facts“, etc.)[10]. Konsequenterweise unterliegen auch diese Regeln selbst wiederum dem Kollektivitäts-Gedanken.

Auf diesem Hintergrund war ich besonders gespannt auf das folgende AP 6, in dem es um „Konstruktivismus und Ethik“ geht. Zentrale Frage: „Wie unterscheidet man, was „Recht“ und „Unrecht“ ist, wenn die Maßstäbe für „Recht“ und Unrecht“ erfunden sind?“ (S.90). Wie bei Platon werden die konkurrierenden Positionen hier in einem Dialog zwischen zwei Protagonisten diskutiert. Das hat etwas, es geht munter hin und her und die beiden Protagonisten bewegen sich angeregt durch die verminte Bedeutungs-Landschaft der jeweils von ihnen favorisierten Perspektiven. Als Ziel wird „eine Art einlösbarer Metaethik“ ausgemacht (S.103). Und es dürfte nicht verwundern, wenn Diskutant T. als ein Fazit anbietet, Ethik diene „einzig und allein dazu, Handeln und Denken der Menschen in spezifischen kommunalen Systemen zu regulieren“ (S.106), schließlich von beiden akzeptabel gefunden als „Sprachgespenst mit der Funktion sozialer Regulierung“ (S.106). Das ist konsequent gedacht, lässt mich jedoch im Kontext neuerer Zeitgeschichte ein wenig frösteln (s.o.). Nicht, weil ich das nicht nachvollziehen könnte, sondern weil mir das genauso wenig gefällt wie die Gegenposition: Definition durch höhere Mächte. Das Thema bleibt heiß. Beim Lesen dachte ich, dass dieser Dialog unbedingt Pflichtlektüre sein sollte, jedenfalls für alle, die sich auf Konstruktivismus berufen. Die vertiefte Auseinandersetzung mit den hier formulierten Herausforderungen halte ich (wenigstens unter diesem Vorzeichen) für zentral. Schade, dass in diesem wichtigen Kapitel ein größerer Passagenrutscher unbemerkt in Druck gegangen ist. Zwischen S.97 und 101 sind etwa anderthalb Seiten zweimal in den Text geraten und können zumindest beim aufmerksamen Lesen zunächst verwirren[11]

Wirklichkeitsprüfung

Wirklichkeitsprüfung beschreibt die AG als eine „sozial-konstruktivistische Forschungsperspektive für die Psychologie“ (AP 10, S.110-169). Als Ausblick auf die folgenden Kapitel, in denen auf dieser Basis einzelne Skripte detailliert durchgegangen werden, kann die auf S. 132 skizzierte Zusammenfassung dienen: „Im Wesentlichen werden im Rahmen einer Wirklichkeitsprüfung die im kommunalen Diskurs hergestellten und individuell wirksamen Wirklichkeiten gesammelt, dokumentiert, „gezeigt“, zur Diskussion gestellt und Interessierte werden eingeladen, sich auf das Gezeigte hin zu orientieren“. Die Passivform könnte ein wenig verräterisch wirken, es wird gesammelt. Von wem wird gesammelt? Und wer lässt sich auf das Sammeln ein? Usw. Mein kritisches Zögern hat sich jedoch als unbegründet erwiesen. Im Text wird mehrfach und unmissverständlich belegt, dass es sich hier im weitesten Sinne um ein Austauschen auf Augenhöhe handelt. Insofern konnte ich mit gutem Gefühl lesen, Wirklichkeitsprüfung sei empirisch, konstruktivistisch, diagnostisch, systemisch und wertgebunden (S.133-139). Das verlangt aufmerksames Beobachten und somit auch Selbstbeobachten. Immerhin richtet sich das Interesse auf „Lebensäußerungen personaler Systeme vor dem Hintergrund kommunaler Systeme“ (S.139). D.h.: Forschungsgegenstand müsste konsequenterweise sein: Wie lässt sich wer unter welchen Bedingungen auf etwas ein, von dem ich Teil bin? Auch in dieser Hinsicht geben die Arbeitspapiere Hinweise darauf, dass die Prämisse der Beobachtung 2. Ordnung auch für die AG gilt. Die Darstellung macht ebenfalls deutlich, dass Wirklichkeitsprüfung sich nicht an statistischer Schlussfolgerungs-Validität orientieren kann. Es gehe bei diesem Vorgehen nicht um die „Qualität von Zahlen, sondern [um] die Qualität, die Triftigkeit der untersuchten Inhalte sowie deren detailfreudige Skizzierung (Gesten, Skripte)“ (S.165). 

Aus heutiger Sicht wäre noch anzumerken: Die damalige Forschungsperspektive war eine interpersonelle, noch ohne den Beistand einer funktional differenzierenden Systemtheorie. Luhmann kommt nicht vor, stattdessen Maturana. D.h.: Die Referenzgröße ist der „Mensch“ als autopoietisches System (S.224), nicht ein Prozess, dessen spezifische Fortsetzungsbedingungen den systemerhaltenden Anschluss definieren. Ich halte diese Perspektive der AG nicht für ein Manko. Für die Praxis können sich aus dem Dialog zwischen interpersonellen und funktional differenzierenden Systemtheorien durchaus spannende und gewinnbringende Erkenntnisse ergeben[12].

Beispiele für Skripte: Beziehung, Diskussion, Macht

Eine allgemeine Bestimmung des Begriffs „Beziehung“ stand für die AG nicht zur Debatte. Stattdessen folgt sie den Überlegungen zur Dominanz kommunal wirksamer Stereotype. Auf dieser Basis sammelte sie die seinerzeit gängigen „Sprachfiguren über Beziehung“ (S.173) und untersuchte, was „geschieht, wenn zwei kommunal definierte Personen mit kommunal definierten Ich-Vorstellungen und kommunal definierten Beziehungs-Vorstellungen aufeinander treffen und eine Beziehung eingehen, um sich in derselben als authentische Einzigartigkeiten zu erleben“ (S.174). Davon, dass dieses Thema weiterhin nicht abgeschlossen ist, leben Kino und Literatur, professionelle Berater*innen und Therapeut*innen, und die Betroffenen mühen sich weiter redlich, wenn es gut läuft. Die AG stellt in diesem Rahmen ihre Skriptsammlung vor, bringt sie in einen Zusammenhang mit der historischen Entwicklung von Vorstellungen über Intimbeziehungen, sowie mit den Mythen, die etwa über den Beginn einer Beziehung in entsprechende Narrative einfließen, den Mythen über eine gute Beziehung, wie diese am Leben gehalten werden kann, und wie es um Krisen und das Ende von Beziehungen steht. Das alles liest sich meist kurzweilig, doch auf die Dauer beschlich mich der Eindruck, hier habe sich ein Bias eingeschlichen, die Schattenseiten „bürgerlicher“ Beziehungsvorstellungen in den Schaukasten zu stellen, Vorstellungen von Beziehung, die im weitesten Sinne auf „vorauseilenden Gehorsam“ zielen (S.195). Der Fokus auf die kommunale Basis von Beziehungen, deren Tanz auf einigermaßen zwingenden sozialen Erwartungen soll einen „Distanz-Effekt“ (S.199) bewirken, gerade dadurch, dass sich viele in den vorgestellten Skripten wiedererkennen. Der häufige Gebrauch des Begriffs „Beziehungsverstrickte“ hat das für mich noch verstärkt und ich war dann doch ein wenig erleichtert, dass die AG an einer Stelle auch der Asterix-Variablen ein Lebenszeichen widmet, indem es heißt: „Auch im postmodernen Zeitalter gibt es in einigen kleinen und abgelegenen kommunalen Systemen noch Beziehungsverstrickte, die gemeinsamen Idealen oder Verhaltenszielen fernab von jedem Konsum nachhängen…“ (S.193).
Die Sammlung der Skripte erweist sich als umfangreich. Besondere Beachtung erhalten „Standard-Beziehungsspiele“ (S.210ff), wie etwa „Zurückweisung der Ebenentrennung und Überbetonung der Beziehungsebene“ (S.214f.; hier kommen auch zum erstenmal „Liebende“ vor, nicht nur „Beziehungsverstrickte“…). Die Sammlung ist zu umfangreich, um sie hier angemessen zu skizzieren. Erwähnen möchte ich noch den Vorschlag der AG für eine aus konstruktivistischer Sicht brauchbare Beziehungsgrundlage, das „AZ2GB-Modell“ (S.226ff.): Autonomie, Zuneigung, entsprechende Gesten, Geschenke, Beziehung. 

Umfangreich und aus meiner Sicht gewichtig gestaltet sich das Kapitel über „Diskussions-Skripte“. Die AG scheint gezögert zu haben, ihre entsprechenden Überlegungen zu veröffentlichen. Sie spricht hier von „Ambivalenz der Aufklärung“ (S.233) und meint damit, dass durch das Offenlegen einer Art Betriebsanleitung für entwertendes und hierarchisierendes Diskussionsverhalten die Möglichkeit gegeben ist, dies menschenverachtend und destruktiv zu nutzen. Mir scheint, dass hier eine konstruktivistische Gretchenfrage angesprochen ist: Wie steht es um die Dynamik von formaler Möglichkeit des Könnens und persönlicher Verantwortung für das Ausüben dieses Könnens? Die Querverbindung zum oben skizzierten Ethik-Thema liegt auf der Hand. Ein sophistisch geschicktes Jonglieren mit rhetorischen Versatzstücken kann ja leicht vergessen lassen, dass konstruktivistisches Denken nicht darauf zielt, Beliebigkeit aufblühen zu lassen oder, schlimmeren Falls, als Argument zu Verdummung und/oder Unterdrückung verwendet zu werden. Beliebigkeit widerspricht dem Geist der Aufklärung. Wenn die AG das Thema „Diskussion“ vordergründig über die Konzentration auf Beziehungs-Fallenstellerei erschließt, dann dient das der Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr setzen zu können. Was mache ich, wenn mir jemand „Killerfragen“ stellt (S.250ff), wenn ich vor die unmögliche Aufgabe gestellt werde, meine Kritik an etwas mit Vorschlägen zur Rettung der Welt zu begründen (S.256ff.)? Solche und ähnliche Fragen spricht dieses Kapitel an. Ich halte das für wichtige Anregungen, auch wenn ich mich in der Fülle der genannten Beispiele zunehmend unwohl gefühlt habe. Gut, dass es bei allen Beispielen, und es sind viele, zum Ende immer Ideen gibt, wie jemand konstruktiv damit umgehen könnte, wenn es denn nicht doch nötig wird, aus dem Feld zu gehen. Im Prinzip also ein gutes Stück notwendiger Arbeit, das sich hier entfaltet. Leise, doch vernehmlich kommt mir dann allerdings doch der Gedanke hoch (!Vorsicht, bloß keine Motivunterstellung), ob sich dieses Panoptikum gruseliger Diskussionsschlächter nicht besonders auf dem Hintergrund abwertender institutioneller Strukturen entwickelt hat? Auf der Grundlage unwürdiger Fakultätsrat-Erfahrungen? Ich weiß es nicht. Manchmal dachte ich mir, manchmal könnte auch lachen helfen. Aber das lässt sich leicht sagen als freier Mann.

Bleibt noch das Kapitel über „Macht“. Ein wichtiges Thema, weiterhin. In der vorliegenden Erörterung schien sich mir beim Lesen der seinerzeitige Kontext stark bemerkbar zu machen. Einen großen Teil nehmen Überlegungen zu Erfahrungen im Fakultätsrat ein, eine Analyse der verbalen und nonverbalen Äußerungen von Machthabenden und Machtlosen, institutionell so strukturiert. Das ist durchaus lehrreich, und kann vermutlich auf aktuelle Konstellationen übertragen werden. Die Absicht, aktuell Machtlosen Verhaltensmöglichkeiten aufzuzeigen, lässt das über den Moment hinaus wirken. Ich habe mich allerdings zu diesem Kapitel gefragt, ob sich das Thema mit Gewinn anders bedenken lassen könnte, wenn Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt mit in die Überlegungen aufgenommen worden wäre. Immerhin lag das entsprechende Buch seit 1970 vor. Mir gefällt nach wie vor Arendts Überlegung, Macht entspreche „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner, sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (Arendt 1970, S.45). „Gewalt“ dagegen sei „durch ihren instrumentellen Charakter gekennzeichnet“ (a.a.O., S.47). Mir scheint, dass diese Gedanken dem Spirit der AG durchaus entsprechen. Aber womöglich ist es hier wie mit der oben erwähnten Methodenkritik von Jürgen Kriz. Vielleicht braucht es im Aufbruch den Gedanken als Rückenwind, als erster und allein auf weiter Flur die Dinge umkrempeln zu können. 

Nach-Denken

So leicht ist mir das nicht, beim Nach-Denken über diese Lektüre zu einem einfachen Eindruck zu kommen. Da ist zum einen dieses frisch-charmante Rebellentum, diese Erinnerung an Zeiten, in denen die Richtung klar schien: Anders sollte es werden, besser! Im Zauber des Anfangs kann es wohl kaum Zweifel an der Stichhaltigkeit der eigenen Positionen geben. All dies. Schließlich war die Entscheidung für Psychologie als Studium und Beruf keine beliebige Tralala-Sache! 
Und dann sind da die gut 40 Jahre Berufsleben und die mehr als 30 Jahre, die seit der Formulierung der hier besprochenen Arbeitspapiere vergangen sind. Da scheint es mir gerade hinsichtlich des Alltagsfokus zweifelhaft, ob sich die Psychologie heute noch sinnvoll als eine kontextfreie Disziplin konzeptualisieren lässt. Wenigstens in der Praxis dürften sich Überlegungen zur Transdisziplinarität mittlerweile als zukunftsträchtiger erweisen (Levold 2014, s.o.).

Und die Welt hat sich rasant entwickelt seitdem, die Warnungen vor einer Klimakatastrophe gab es zwar schon damals, eine flächendeckende Digitalisierung aber nicht. Hätten Skripte zur digitalen Kommunikation noch in das hier geschilderte Spektrum gepasst? Und im Kapitel „Macht“, genauer: bei der Frage: „Wie wollen wir in unserer Kultur „Macht“ sehen?“ (S.319f.) heißt es in einer argumentativen Reihenfolge immer noch: „…BrandmeisterIn, BademeisterIn, Bundeskanzler, Oberstudienrätin“. Nach anderthalbjahrzehnten Merkel fällt das fehlende „In“ heute anders auf als damals. In vielem dürfte das Buch heute offene Türen einrennen. Doch manche Türen sind immer noch verschlossen. Im Prinzip hat das Buch somit nichts von seiner Aktualität verloren. Die Aufmerksamkeit für die in diesem Buch angesprochenen Themen braucht weiterhin aktives Bemühen. Sicher ist Populismus ein alter Hut, und sophistisches Reden, das in fulminanter Wortakrobatik das Recht des Stärkeren behauptete, hatte seine eigene Epoche schon im antiken Athen. Doch die digitalisierenden Mittel, die so etwas in Echtzeit global verstärken können, die sind neu. Dazu hätte ich mir eine Überarbeitung der seinerzeitigen Skript-Sammlungen gewünscht, Psychologie des Alltags verjüngt, sozusagen. Vielleicht kommt das ja noch. 

Und jetzt? Ich bleibe eher nachdenklich. Mir gefällt die Erinnerung, die das Buch anstößt, ich begrüße die Aufmerksamkeit, die es auf wichtige Themen menschlichen Zusammenlebens richtet, ich finde die Konzentration auf Alltagsleben gut, und ich bin angetan von dem heuristischen Reichtum, der sich da auftut. Und ich werde den Gedanken nicht los, dass es sich auch um einen Nachruf handeln könnte, wenn nicht mehr hinzukommt. Da bin ich also gespannt. 

Noch etwas Handwerkliches: Auf den ersten Blick ist das ein Prachtexemplar von Buch, Hardcover, Lesebändchen, die informativen neuen Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln. Und dann finde ich ein Inhaltsverzeichnis vor, das knapper nicht sein könnte, dazu kein Register, weder zu Personen, noch zu Begriffen. Ein gezieltes Nachschlagen ist so nicht möglich. Da bleibt dann womöglich nur der Zugriff auf die Papiere im Web, da lassen sich alle Begriffe mit der Suchfunktion finden. Über den zigfach eingestreuten Manierismus des/der „geneigten Leser und Leserinnen“ will ich lieber schweigen. Das ist Geschmackssache. Ich selber bevorzuge aufmerksame, kritische Leser*innen. Und solche wünsche ich diesem Buch in Mengen. Dieser Geist des Aufbruchs, den die Bochumer Arbeitsgruppe hier aufleben lässt, ist unverzichtbar. Man dürfte sich nur nicht darin ausruhen. Er wird weiter gebraucht. Aktiv, reflektiert und ein wenig befreit von verspielter Selbstverliebtheit. Aber selbst die könnte wohltuen, gelegentlich. Dranbleiben!

Literatur

Arendt, H. (1970) Macht und Gewalt (= serie piper 1). München: R.Piper

Bateson, G. (1982) Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Orig. 1979)

Dell, P. (1986) Auf der Suche nach Wahrheit: Auf dem Weg zur klinischen Epistemologie (Orig. 1982). In: Dell, P. (1986) Klinische Erkenntnis. Zu den Grundlagen systemischer Therapie (= systemische studien, Bd.1). Dortmund: verlag modernes lernen, S.13-24

Gergen, K.J. (2021) Die Psychologie des Zusammenseins. Tübingen: dgvt (Orig. 2009)

Kriz, J. (1981) Methodenkritik empirischer Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis. Stuttgart: Teubner

Kriz, J. & F.B. Simon (2019) Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater? (hgg. von Matthias Ohler). Heidelberg: Carl-Auer

Levold, T. (2014) Systemische Therapie als transdisziplinäres und multiprofessionelles Konzept. In: Levold, T. & M. Wirsching (Hrsg.) Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl-Auer, S. 14-20

Rufer, M. & Chr. Flückiger (Hrsg.)(2020) Essentials der Psychotherapie. Praxis und Forschung im Diskurs. Bern: Hogrefe

Strauß, B. & U. Willutzki (2018) Was wirkt in der Psychotherapie? Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Tomm, K. (2019) Das Postfaktische und eine Begründung für therapeutische Initiativen. Systeme 33(2):119-132


Anmerkungen

[1] Eine Kopie des Aufrufs findet sich auf S.346

[2] Levold 2014, S.14ff.

[3] Womöglich gibt es ein Skript, das fordert, Aufmerksamkeit nicht durch ein zu komplexes Branding zu vergraulen.

[4] Alle Arbeitspapiere und die weiter genannten Texte zu finden unter: http://www.boag-online.de/overview.html (29.06.2021)

[5] So verweist Padberg in seinem einleitenden Kommentar auf Bateson, der „einmal“ geschrieben habe, „dass in der Gegenwartskultur nur noch zwei Gruppen ihre Grundlagen wirklich kennen: Katholiken und Kommunisten“ (S.18). In der hier angedeuteten Stelle sprach Bateson (1982, S.34f.) allerdings etwas relativierender und präziser von katholischen und marxistischen Studentengruppen, die weniger als andere Studentengruppen eine „ganz eigenartige Kluft im Denken“ zeigten. Er meinte damit „ein mangelndes Wissen um die Voraussetzungen nicht nur der Wissenschaft, sondern auch des täglichen Lebens“. Ich vermute, darüber ließe sich vertieft nachdenken, auch darüber, ob dieser hingestreute Bezug auf ihn nicht ein wenig der Selbsterhöhung diente. 

[6] Z.B. Strauß & Willutzki (2018), Rufer & Flückiger (2020)

[7] „… truth is the product of the collectivity of truth makers”

[8] Dell (1986; Orig. 1982)

[9] Siehe Tomm (2019)

[10]Als Pendant zum vorliegenden Buch hat die AG Ken Gergens „Relational Being“ aus dem Jahr 2009 in der Übersetzung von Thorsten Padberg herausgebracht (Gergen 2021). Sowohl Thorsten Padberg in seinem Vorwort, als auch Gergen selbst, setzen hier Akzente, die einem populistischen Usurpieren konstruktivistischer Ideen Widerstand leisten. Der Fokus liegt jetzt mehr auf neuen Umgangsformen und auf dem „Ende einer Dynamik gegenseitiger Ablehnung“ (ebd., S.20). Eine Besprechung des Buches folgt später.

[11] Wer dieses Kapitel unverwirrt lesen möchte, kann auf das Original im Netz zurückgreifen: http://www.boag-online.de/pdf/boagap06.pdf ; dort ohne verrutschte Passage: S. 6

[12] Siehe z.B. Kriz & Simon (2019)

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