In Heft 1/2024 der Open Access-Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft gibt es einen Artikel von Kurt Greiner, seines Zeichens Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Siegmund-Freud-Universität Wien, in dem er sich mit den unterschiedlichen natur- bzw. geisteswissenschaftlichen Geltungsansprüchen der Psychotherapie (am Beispiel der Psychoanalyse) auseinandersetzt. Der Text ist mit „Psychotherapie als Textmedizin. Versuch über ein allgemeines Funktionsparadigma“ übertitelt. Seinem eigenen Verständnis von Psychotherapie liegt nämlich „die Prämisse zugrunde, dass der psychotherapeutische Gegenstand «subjektives Erleben» ist, das sich sowohl in verbalem als auch nonverbalem «Text» artikuliert, der wiederum verstanden werden will“. In dieser Perspektive versteht er „Psychotherapie als Textmedizin“: „Damit gewinnen wir Psychisches auch als wissenschaftliches Objekt. Denn als Objekt, auf das wir uns wissenschaftlich-forschend, d. h. methodisch-systematisch beziehen können, ist Psychisches stets Text. Was sich mit Dilthey als «Formen und Gestalten des Ausdrucks» bezeichnen lässt, das nennen wir schlicht Text und meinen damit sämtliche mehr oder weniger komplex strukturierten Sinngebilde, Mitteilungsfiguren, Objektivationen aller Art, die in verbaler, aber auch nonverbaler Form, d. h. mimisch, gestisch, ikonisch etc. in Erscheinung treten können. In diesem Sinne kann sich psychologisches Verstehen zwar nicht direkt auf das subjektive Erleben richten, dafür aber auf den Ausdrucks-Text, in dem sich ebendieses zur Sprache bringt“ (S. 14).
In Heft 2 derselben Zeitschrift gibt es eine Replik von Jürgen Kriz zu lesen, in der dieser die implizierte Medizinmetapher kritisch aufgreift und seinerseits die Frage der Bedeutung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen für die psychotherapeutische Praxis aufgreift. Im Abstract schreibt er: „In dieser Replik auf einen Beitrag von Kurt Greiner über «Psychotherapie als Textmedizin» werden
zwei Aspekte zur Diskussion gestellt. Zum einen geht es um die Frage, ob in den gegenwärtigen Entwicklungen der Psychotherapie, die stark von einem medizinisch-technischen Weltbild dominiert wird, die durch die beiden Wortbestandteile «Text» und «Medizin» diese – auch von Greiner kritisierte – Sicht nicht noch verstärkt wird und diese beiden Begriffe daher eher unglücklich gewählt sind (auch wenn sie von Greiner anders interpretiert werden). Damit verbunden ist die Frage, ob nicht stärker unterschieden werden muss zwischen (a) Psychotherapie als Gegenstand der Wissenschaft – die damit im Bereich von kulturell-objektiven Symbolsystemen angesiedelt ist – und (b) Psychotherapie als beziehungsgestaltendes Handeln – das zunächst einmal oder zumindest auch den Fokus auf leiblich-vorsprachliche Erfahrung zu richten hat. Der zweite Aspekt, der zur Diskussion gestellt wird, ist das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen. Der von Greiner vorgenommene Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft wird zwar methodisch geteilt, inhaltlich aber infrage gestellt, da auch die Gegenstände und Prinzipien der von den Naturwissenschaften behandelten Phänomene letztlich Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, wie dies bspw. im Pauli-Jung-Dialog betont wurde.“
In diesen Texten geht es um eine ebenso alte wie immer noch grundlegende Debatte, die auch in Zukunft weiter gehen dürfte. Die Lektüre ist zu empfehlen!