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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Zitat des Tages: Andreas Reckwitz

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“Soziale Systeme einerseits, psychische Systeme andererseits, schließlich auch organische Systeme und mechanische Systeme werden von Luhmann bekanntlich nicht nur kategorial, sondern operational voneinander unterschieden, als grundsätzlich differente Operationssequenzen identifiziert, die füreinander Umwelt darstellen und sich jeweils ‘autopoietisch’ und ‘selbstreferentiell’ reproduzieren. Daß sich der Mensch damit in der Umwelt des Sozialen situiert findet, sollen manche humanistischen Gemüter als Skandalon empfunden haben. Die humanistische Kränkung stellt sich letztlich als Konsequenz eines der Tradition der klassischen Soziologie immanenten Geniestreichs dar. Gesucht wird nach einer emergenten Ebene des Sozialen über das Individuelle hinaus: Luhmann findet sie, indem er die symbolischen Ordnungen des Sozialen auf die Akte der Kommunikation zurechnet und diese als extramentale, extrakorporale Sequenzen definiert. Die begriffliche Logik der Luhmannschen Systemtheorie artikuliert eine Logik der Separierung, der Trennung von gegeneinander abgrenzbaren Sphären, der Grenzerhaltung zwischen diesen Sphären, die ‘boundary maintaining systems’ im Sinnevon Parsons darstellen. Man kann gar nicht genug betonen, wie radikal und ungewöhnlich diese Logik der Separierung, der eindeutigen Grenzziehungen zwischen dem Sozialen/Kulturellen, dem Psychischen und dem Körperlich-Organischen ist. Diese auf den ersten Blick verstörende Perspektive hat Luhmann bekanntlich immer dem auf den ‘Menschen’ zentrierten Individualismus und Intersubjektivismus der klassischen Handlungstheorien gegenübergestellt.
Die Ungewöhnlichkeit und Begrenztheit einer solchen sozialtheoretischen Logik der Trennungen wird jedoch sichtbar, sobald man sie mit den alternativen Kulturtheorien, den ‘eigentlichen’ Kulturtheorien konfrontiert. Statt der Luhmannschen Logik der Trennungen des Sozialen vom Psychischen, vom Körperlichen und vom Materialen zeigt sich dort eine Logik der Expansion des Sozialen, des Kulturell-Symbolischen bis in die Strukturen des Psychischen, des Körperlichen und letztlich sogar des Mechanischen hinein, eine Logik der Grenzüberschreitung zwischen diesen Sphären. Diese begriffliche Expansion des Kulturellen zielt auf eine die Eindeutigkeit der Grenzen überschreitende ‘Verschränkung’ des Psychischen, Körperlichen und Mechanischen mit dem Kulturellen. In Anlehnung an einen Begriff Pierre Bourdieus können sich solche Kulturtheorien als verschiedene Versionen einer ‘Theorie der Praxis’ etikettieren lassen, als Theorien einer ‘Logik der Praxis’ menschlicher Aktivitäten, jenseits der intellektualistischen ‘Logik der Logik’“ (In: Andreas Reckwitz: Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen: Niklas Luhmann und die Kulturtheorien. In: Günter Burkart & Gunter Runkel (Hrsg): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt am Main 2004, Suhrkamp. S. 213-140, S. 218f.; Foto: Europa-Universität Viadrina Frankfurt – Oder).

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