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Wiltrud Brächter: Geschichten von Kindern als Ausgangspunkt eigenen Schreibens

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Und hier, wie angekündigt, der letzte Teil des diesjährigen Adventskalenders, beigesteuert von Wiltrud Brächter aus Köln:

Gelesen habe ich immer schon gern und viel, auch geschrieben habe ich zu verschiedenen Anlässen gerne. Dass ich begonnen habe, über Psychotherapie zu schreiben, lag an dem besonderen Feld, in dem ich hier tätig bin: der Kindertherapie. Seit Beginn meiner Arbeit als Spieltherapeutin war ich fasziniert davon, wie Kinder ihre Erfahrungen im Spiel und in eigenen Gestaltungen ausdrücken. Meine Aufgabe als systemische Therapeutin sah ich darin, sie dabei zu unterstützen, Szenen weiterzuentwickeln und sich Lösungen zu erspielen. Sandbilder, vom Problemerleben des Kindes bestimmt, gerieten in Bewegung, wenn Kinder sie „weiter spielten“; stereotypes Rollenhandeln konnte sich auflösen, wenn es in den Kontext einer Handlung eingebettet wurde und ich dem Kind als Gegenüber zur Verfügung stand. Spieltherapie wurde in dieser Ausrichtung zu einer Arbeit an Geschichten, zu narrativer Therapie.
Ich war beeindruckt von der literarischen Qualität, die in vielen der von mir mitverfolgten Geschichten zum Ausdruck kam, teils bereits in Formulierungen während des Spielgeschehens, oft noch pointierter, wenn Kinder mir ihre Geschichte am Schluss der Stunde zum Mitschreiben diktierten. Begonnen hat mein Schreiben über Therapie in solchen Momenten in der Rolle der Sekretärin. Oft gab es in der Endfassung von Geschichten noch einmal neue Wendungen und Lösungsideen; durch den gebräuchlichen Einstieg „Es war einmal…“ wurden schwierige Lebensereignisse zudem vom Kind selbst der Vergangenheit zugeordnet. Gemessen am Metaphernreichtum und an der Fantasie, die viele Geschichten der Kinder durchzogen, erschienen mir therapeutische Geschichten für Kinder von Erwachsenen meist eher flach und eindimensional, zu offensichtlich darauf ausgerichtet, eine Botschaft zu transportieren. Erzählungen der Kinder ließen sich nicht so leicht entschlüsseln wie therapeutische Geschichten eines Protagonisten, der in die Welt hinaus zieht, Schwierigkeiten überwindet und gestärkt aus seinen Abenteuern hervorgeht. Selbst entwickelte Geschichten der Kinder waren häufig vielschichtiger, gaben verschiedenen Aspekten ihrer Person Raum, enthielten zahllose Schleifen und Umwege und besaßen eine Symbolik, die sich einem direkten Transfer in die äußere Realität widersetzte.
Zum Schreiben kam ich zunächst, indem ich Geschichten der Kinder für sie notierte, um sie ihnen zum Abschluss der Therapie zur Verfügung stellen zu können. Das Aufschreiben machte es möglich, flüchtige Momente im Spiel einzufangen, Erfahrungen von Ausnahmen und neuen Möglichkeiten Raum zu geben und wichtige Handlungsschritte noch einmal hervorzuheben.
Konzentrierte sich meine Arbeit zunächst auf den Raum der Einzeltherapie, begann ich später, diese Geschichten zu veröffentlichen: zunächst gegenüber den Eltern, die durch sie oft einen vertieften Zugang zum emotionalen Erleben ihres Kindes gewinnen konnten, anschließend auch in der Fachöffentlichkeit, da mir der therapeutische Gewinn der narrativ orientierten Arbeit zu hoch erschien, um ihn KollegInnen nicht zugänglich zu machen. Bis heute finde ich es hoch spannend, einen Bogen zwischen den Geschichten der Kinder und therapeutischen Hintergrundkonzepten zu schlagen. Ging es mir zunächst darum, Methoden der systemischen Therapie mit der jeweiligen Spielhandlung zu verknüpfen, interessieren mich zurzeit vor allem ein Ego-State-orientierter Blick auf das Spielgeschehen und die Möglichkeit, Kinder und Eltern zur Entwicklung gemeinsamer Geschichten anzuregen. Je nach dem, welchen theoretischen Fokus ich verfolge, sehe ich unterschiedliche und immer wieder neue Aspekte in den Spielhandlungen der Kinder und greife sie auf unterschiedliche Art und Weise auf – ein Prozess, der vermutlich noch einige mir unbekannte Wendungen bereit halten wird.
Wer auf Geschichten und Gedichte von Kindern in therapeutischen Kontexten neugierig geworden ist, findet sie u. a. hier: I. Hesse u. H. Wellershoff (1997): „Es ist ein Vogel – er kann fliegen im Text“: Kinder schreiben sich ihre Geschichten von der Seele. Tübingen (Attempo).

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