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Vom Vorgegebenen zum Aufgegeben

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Im Carl-Auer-Verlag ist im vergangenen Jahr Bruno Hildenbrands „Genogrammarbeit für Fortgeschrittene. Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen“ erschienen. Hartwig Hansen hat es rezensiert. Sein Fazit: „Fazit: Der »neue Hildenbrand« ist für alle Genogramm-Fans eine ebenso anspruchsvolle wie kurzweilige Lektüre eines vor Ideen sprühenden Tausendsassas mit langjähriger Erfahrung!“

Hartwig Hansen, Hamburg

»Ich selbst bin ein Erstgeborener mit einer neun Jahre jüngeren Schwester. Wenn mich jemand sensu König etikettieren würde, hätte er mit ernsthaften Schwierigkeiten zu rechnen.«

Bei dieser Fußnote 110 (von insgesamt 135) musste ich schmunzeln – wie im- mer wieder bei der Lektüre »des neuen Hildenbrands«. An dieser Fußnote lässt sich einiges in Bezug auf den Geist dieses Buches ablesen:

  • Der Autor scheut sich nicht, seinen persönlichen Hintergrund einzubringen. Im Gegenteil.
  • Er verwahrt sich energisch gegen zu plumpe und rasche Zuschreibungen und Interpretationen. Denn: »Es kommt, wie immer, auf den Einzelfall und damit auf den Kontext an.« (91)
  • Vom »König-Sein« will er (trotz seiner unbestrittenen Verdienste in diesem Feld) nichts wissen.
  • Und er droht (eventuell doch im Sinne eines erstgeborenen großen Bruders und das noch als 70-Jähriger) humorvoll »eine blaue Nase« an.

Der Autor mag mir diese persönliche Deutung verzeihen, denn er schreibt selbst: »In der menschlichen Welt kann das Deuten nicht eliminiert werden.« (63)

Neben der stattlichen Zahl an Fußnoten – wohl dem am Ende des Buches erwähnten »Stapel der Notizen aus den letzten Jahren« geschuldet – gibt es unter den sechs Kapitelüberschriften 1. Einführung, 2. Vornamen als Deutungsressourcen, 3. Geschwisterbeziehungen, 4. Weiterentwicklungen in der Genogrammarbeit, 5. Integrative Darstellung und 6. Immer wieder gestellte Fragen, ungefähr hundert Unterüberschriften auf 212 Buchseiten.

Das macht das Lesevergnügen einerseits kleinteilig und andererseits komplex. Der Autor bekennt als emeritierter Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie: »Es ist meine Sache nicht, dem süßen Gift der Vereinfachung zu erliegen …« (196) Das Buch wendet sich also im doppelten Sinne an »Fortgeschrittene«.

Hildenbrand geht in seiner Arbeit von den ältesten verfügbaren Daten der (Index-)Familie aus und rekonstruiert sequentiell Generation um Generation – siehe seine »Einführung in die Genogrammarbeit« von 2005, dessen Lektüre durch sein hier vorgestelltes Buch nicht ersetzt werden kann, wie er schreibt. Er sagt: »Mich interessiert der Prozess des Werdens. Ich möchte nicht anfangen mit dem, was ist, sondern rekonstruieren, was wird.« (186)

Dazu zitiert er Albert Camus, »mein Idol von Jugend an«: »Man wird nicht stark, schwach oder eigenwillig geboren. Man wird stark, man erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im Menschen, sondern umgibt ihn.« (37) und analysiert diese drei Sätze ausführlich.

In den folgenden Einzel-Kapiteln präzisiert Hildenbrand spannende Ideen für die vertiefende Genogrammarbeit:

  • »Vornamen sind heuristische Ressourcen, die man nicht ungenutzt liegen lassen sollte.« (101) Denn: »Der Name ist (mitunter, Anm. H. H.) verknüpft mit der Vergabe eines Auftrags an das Kind. Sie besteht darin, an die Vergessenen zu erinnern, allgemeiner formuliert: die Familie zusammenzuhalten.« (88) Besonders eindrücklich fand ich den Kasten zu der Frage, wie die Kinder von Rudi und Gretchen Dutschke zu ihren Namen kamen (84).
  • Die Bedeutung des »Vorgegebenen« in den Geschwisterbeziehungen (ab 102);
  • die Verwendung von Fotos in der Genogrammarbeit (ab 114);
  • Genogrammarbeit in der Laufbahnberatung (Martin Hertkorn, INQUA-Institut Berlin, ab 158);
  • ein Fallbeispiel (unter vielen erhellenden in diesem Buch) zur integrativenDarstellung der entwickelten Konzepte (ab 168) sowie:
  • Hildenbrand beantwort die ihm immer wieder gestellten Fragen von Praktikern und von Theoretikern, zum Beispiel: Beginne ich Genogramme unten oder oben? (ab 180)

Besonders spannend fand ich die Seiten »zum Bezug der Genogrammarbeit zu Familienaufstellungen« (187 ff.) mit der Schilderung einer turbulenten Begeg-nung mit Bert Hellinger 1993.

Fazit: Der »neue Hildenbrand« ist für alle Genogramm-Fans eine ebenso an- spruchsvolle wie kurzweilige Lektüre eines vor Ideen sprühenden Tausendsassas mit langjähriger Erfahrung!

Leseprobe

Bruno Hildenbrand (2018): Genogrammarbeit für Fortgeschrittene. Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen. Heidelberg (Carl-Auer)

212 Seiten, Kartoniert
Preis: 29,95 €
ISBN 978-3-8497-0242-7

Verlagsinformation:

Zu den Standards systemischer Therapie und Beratung gehört die Drei-Generationen-Perspektive. Wer sie nachvollziehbar visualisieren will, macht das am besten mit einem Genogramm. Es erschließt den sozialen Hintergrund der Klienten, hilft Beziehungen rekonstruieren, zeigt Muster auf und liefert Ideen für alternative Entscheidungen.
Bruno Hildenbrand vermittelt neben den klassischen Ansätzen der Genogrammarbeit ein theoretisch fundiertes Vorgehen, das gleichzeitig konsequent am Fall orientiert bleibt. Er schöpft dabei einerseits aus seiner akademischen Tätigkeit als Mikrosoziologe an der Universität Jena und aus seiner Erfahrung als Lehrtherapeut und Supervisor am Meilener Ausbildungsinstitut für Systemische Therapie und Beratung andererseits.
Der Autor geht auf maßgebliche Aspekte ausführlicher ein – wie etwa Vornamen als „Deutungsressourcen“ oder Geschwisterbeziehungen –, behält aber auch die Weiterentwicklung der Genogrammarbeit als Ganzes im Blick. Die vorgestellten Konzepte fließen in das ausführliche Fallbeispiel einer Paarberatung ein. Einen weiteren didaktischen Zugang bieten die Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Genogrammarbeit am Ende des Buches.

Inhaltsverzeichnis

Tom Levold: Vorwort

Auf das Erscheinen dieses Buches habe ich mich schon gefreut, als ich die ersten Entwürfe und Manuskriptfassungen zu lesen bekam. In einem Satz: Es ist ein spannendes, geistreiches, immer wieder überraschendes und anregendes Buch über ein vermeintlich altbekanntes Thema geworden.

Die Arbeit mit Genogrammen ist aus der systemischen Therapie und Beratung nicht wegzudenken. Kein Wunder, dass es bereits eine Vielzahl an Artikeln und Büchern über dieses Thema gibt. In der klassischen Variante der Genogrammarbeit geht es – ausgehend von einer Indexperson – um die Visualisierung von Familienbeziehungen durch Symbolisierung der Familienmitglieder und ihrer horizontalen (Geschwister- und Paarebene) und vertikalen (mehrgenerationale Ebene) Verbindungen über mindestens drei Generationen. Mit Hilfe von Angaben zu wichtigen Daten und lebensgeschichtlichen Ereignissen wird es möglich, das komplexe Geflecht einer mehrgenerationalen Beziehungsstruktur simultan in einer Abbildung abzubilden (und sich so von einer linearen Darstellung – wie z. B. in einer Erzählung oder einer Behandlungsakte – zu lösen). Auf diese Weise bringt die Erstellung eines Genogramms einen Orientierungsgewinn und erleichtert die Hypothesenbildung (nicht nur) in der therapeutischen Arbeit. So weit, so traditionell.

Bruno Hildenbrand, emeritierter Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie an der Universität Jena und langjähriger Dozent und Supervisor im Meilener Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung, schlägt dagegen eine völlig andere Betrachtungsweise von Genogrammen vor. Die Grundzüge seines Konzepts hat er schon 2005 in seiner Einführung in die Genogrammarbeit ausgearbeitet, die ebenfalls in diesem Verlag erschienen ist. Mit dieser »Genogrammarbeit für Fortgeschrittene« entfaltet er nun die theoretischen, empirischen und anwendungsbezogenen Grundlagen seines Vorgehens auf lebendige und originelle Art und Weise.

Anstelle eines Gegenwartsproblems nimmt Hildenbrand die ältesten verfügbaren biografischen Daten einer Familie zum Ausgangspunkt für eine sequentielle Analyse der Familiengeschichte, die dann schrittweise von Generation zu Generation rekonstruiert wird. Die Aufgabe jeder Generation sieht er – mit Bezug auf Konzepte der phänomenologischen Anthropologie – darin, sich mit dem bereits Vorgegebenen auseinanderzusetzen und sich die Gestaltung des eigenen Lebens zum Aufgegebenen zu machen. Vorgegeben sind dabei die Konstellationen, in die wir hineingeboren werden: historische, politische, soziale und kulturelle Kontexte, Eigentumsverhältnisse, Milieuzugehörigkeit, Bildungchancen usw. Sie stecken den Horizont der Möglichkeiten ab, die den Individuen offenstehen oder eher versperrt sind. Daraus aber eben keine Determinierung von Lebensläufen zu konstruieren, sondern das Vorgegebene als etwas zu betrachten, das den Menschen zur Veränderung und Gestaltung aufgegeben ist, eröffnet den Blick auf die individuellen Entscheidungen, aber auch auf Zufälle, die zu biografischen Wendepunkten, Krisen und Neuanfängen beitragen, welche wiederum zum Vorgegebenen für die nachfolgende Generation werden. Der methodische Anspruch ist daher, sequentiell aus der Rekonstruktion des Vorgegebenen Hypothesen über Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und dann zu überprüfen, welche dieser Möglichkeiten in der nächsten Generation realisiert oder verworfen wurden und welche lebensgeschichtlichen Gewinne und Verluste damit verbunden sind. Als Soziologie konzentriert sich Hildenbrand dabei strikt auf »objektive Daten«, z. B. Berufswahl, Partnerwahl, Wohnort etc. Beziehungsmerkmale (»distanziert«, »verstrickt«, »feindselig« usw.) bleiben außen vor, was Therapeuten zunächst irritieren mag. In einem faszinierenden Kapitel über die Bedeutung von Vornamen zeigt er aber, wie facettenreich sich solche Daten für die Genogrammarbeit nutzen lassen können. Der Witz, dass »Kevin« kein Name, sondern eine Diagnose sei, schiebt dem Namensträger die Verantwortung für den vorgegebenen Namen auf entwertende Weise in die Schuhe. Untersucht man die Rolle von Vornamen in der Generationenfolge, kann man aber erkennen, dass es hier nicht zuletzt um die Fortsetzung von oder gerade auch um den Bruch mit Traditionen geht oder dass z. B. ein Milieuwechsel durch die Vergabe von ungewöhnlichen Vornamen erkennbar wird.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Analyse hinreichendes Wissen über regionale und überregionale historische und soziale Konstellationen erfordert, die die Lebenswelten der Protagonisten in den jeweiligen Jahren geprägt haben – eine Zeitspanne von fünf oder zehn Jahren kann da schon einen bedeutsamen Unterschied ausmachen. Aus eigener Erfahrung mit der Erstellung zahlreicher Genogramme in Supervisions- und Ausbildungskontexten weiß ich, dass ein solches Kontextwissen nicht immer vorausgesetzt werden kann, leider aber auch, dass der Zusammenhang mit solchen »nichtklinischen« Rahmenbedingungen zu selten gesehen, gesucht oder hergestellt wird. Insofern lässt sich das Buch auch als ein Plädoyer lesen, sich ein solches Kontextwissen zuzulegen.

Für die hier beschriebene tiefgreifende Analyse von Genogrammen gibt es in der therapeutisch-beraterischen Alltagspraxis natürlich in der Regel zu wenig Zeit. Es kann daher nicht darum gehen, die unterschiedlichen Praktiken der Genogrammarbeit gegeneinander auszuspielen, wie Hildenbrand einräumt: »Die Disziplin der thematischen Eingrenzung ist für den Berater überlebensnotwendig, der Soziologe muss sie erst lernen«. Allerdings können sich gerade für Praktiker die beiden Perspektiven auf wunderbare Weise ergänzen. Bruno Hildenbrand beschreibt sich selbst als »Grenzgänger« zwischen den Disziplinen. Auch wenn er in seinen letzten Berufsjahren vorwiegend als Hochschullehrer mit Genogrammen in Forschung und Lehre beschäftigt war, hat er seine akademische Karriere erst spät begonnen und zunächst ganz praktische Erfahrungen in der Psychiatrie und später in der Beratung von landwirtschaftlichen Familienbetrieben gemacht, bei der seine Genogrammarbeit eine zentrale Stellung innehatte. Dies hat ihm eine weitreichende Unabhängigkeit vom akademischen Betrieb und seine Identität als »klinischer Soziologie« verschafft.

Wer sich unter diesem Blickwinkel an dieses Buch heranmacht, wird reich belohnt. Es bietet nicht nur einen detaillierten Einblick die Praxis der Genogrammarbeit, sondern ist darüber hinaus ein Füllhorn an Gedanken, Impulsen und Querverweisen, das sich auf jeder Seite über die Leser ergießt. Vor allem ist es auch ein Buch, das die einzigartige Persönlichkeit Bruno Hildenbrands zur Geltung bringt. Das hat auch mit den Bedingungen seiner Entstehung zu tun. Seit einem Schlaganfall 2012 hat er seine Textproduktion durch eine teilweise Lähmung auf die Arbeit mit digitaler Spracherkennung umstellen müssen, eine Einschränkung, die man angesichts des enormen Outputs an Arbeiten, die seitdem erschienen sind, gar nicht für möglich halten mag. Seine Lust am und seine Fähigkeit zum Erzählen erhält dadurch aber noch mehr Raum – und wer ihn schon persönlich erlebt hat, hat seinen unverwechselbaren »Sound« bei der Lektüre sofort »im Ohr«. Seinen anregenden, auch oft bissigen, ironischen und auch durchaus selbstkritischen Stil atmet das Buch auf jeder Seite. Das ist mutig, weil nicht jeder Gedanke in jede Richtung hin abgesichert wird und auch durchaus polemische Urteile und Bewertungen zu finden sind, mit denen man nicht einverstanden sein muss, die aber auf jeden Fall zum Nachdenken reizen und einladen.

Neben dem beeindruckenden Wissenshorizont und der originellen Behandlung von empirischem Material (neben der schon erwähnten Untersuchung von Vornamen z. B. spannende Reflexionen über Geschwisterbeziehungen und die Deutung von Familienfotos) ist es vor allem die subjektive Ausdruckskraft, die mich am meisten fasziniert hat – beim Lesen habe ich mich immer schon auf die nächste Seite gefreut. Was gibt es Schöneres über ein Fachbuch zu sagen?

Über den Autor:

Bruno Hildenbrand, Prof. i. R. Dr.; war bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich Schiller Universität Jena und bearbeitet jetzt als Gastwissenschaftler an der Universität Kassel ein Projekt über die Bewältigung von Krisen im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen in sozialen Diensten. Bis 2015 war er Dozent und Supervisor am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen in Zürich. Er lebt in Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Genogrammarbeit (4. Aufl. 2015), Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie (zus. mit Dorett Funcke, 2009); gemeinsam mit Rosmarie Welter-Enderlin u. a. Herausgeber von Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände (5. Aufl. 2016), Gefühle und Systeme. Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse (2. Aufl. 2011), Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie (3. Aufl. 2011); mit Ulrike Borst Herausgeber von Zeit essen Seele auf. Der Faktor Zeit in Therapie und Beratung (2012).

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