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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Vom Umgang mit der Paradoxie Gleichheit und Differenz

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Haja (Johann Jakob) Molter (Düsseldorf), Karin Nöcker (Frechen):

Zum Aufblühen von Kulturen kommt es, wenn auf eine Frage
von heute eine Antwort von morgen gegeben wird. Zum
Niedergang von Kulturen kommt es, wenn auf ein Problem
von heute eine Antwort von gestern gegeben wird.
Arnold Toynbee

„Unterschiede, die einen Unterschied machen“ (Bateson), ist ein immer wieder  gern zitierter Glaubenssatz in der systemischen Praxis.

Haja Molter

Haja Molter

„Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der beliebtesten Einwanderungsländer Europas entwickelt. In den 50er- und 60er-Jahren erfolgte die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland überwiegend aufgrund der Anwerbung von Arbeitsmigranten, in den 70er- und 80er-Jahren insbesondere durch den Familiennachzug. Seit den 90er-Jahren treten andere Wanderungsmotive in den Vordergrund. Hier sind deutschstämmige (Spät-)Aussiedler, Asylsuchende und Flüchtlinge sowie neue Formen der Arbeitsmigration, insbesondere Werkvertrags- und Saisonarbeitnehmer, zu nennen.

Zwischen 1991 und 2010 wanderten insgesamt 18 Millionen Menschen nach Deutschland ein.“ (Demografiebericht 2011, S.25)

Karin Nöcker

Karin Nöcker

Schaut man auf die Zahlen, fragen wir uns, ob der oben zitierte Glaubenssatz „Unterschiede, die einen Unterschied machen“ für die systemische Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen allein hilfreich ist,  um in Kooperation zu kommen.  Die nicht zu übersehenden Unterschiede, die sich bei Menschen aus anderen Kulturen im Verhältnis zu uns zeigen, bekommen  eine immens überhöhte Bedeutung.

  • Wie lassen sich diese Unterschiede mit dem Diktum: „alle Menschen sind gleich“ vereinbaren?
  • Wie lässt sich die Paradoxie Gleichheit und Differenz versöhnen?

In der Begegnung haben beide Seiten gleichermaßen eine Anpassungsleistung zu vollbringen. Diese Anpassungsleistung wird häufig nicht beobachtet und außer Acht gelassen, obwohl  sie alle an der Begegnung Beteiligten leisten müssen.

Der Begriff der Transkulturalität (Welsch 2002) greift dieses Dilemma auf. Damit ist gemeint, dass es notwendig ist, ein vielfältiges Verständnis für Kulturen zu erzeugen und den Blick nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Anpassungsmöglichkeiten zu legen und somit nach Möglichkeiten für einen kulturellen Austausch zu suchen. Damit ist nicht Integration gemeint, sondern es geht darum, die Phänomene der Unterschiedlichkeit zu inkludieren.

Nehmen wir z. B. das System Schule, wo uns diese Phänomene in Supervision und Beratung häufig begegnen.

Viele Schulklassen bestehen, je nach Stadtteilzugehörigkeit, aus einem bunten Gemisch an Nationalitäten, mit ihren eigenen Wirklichkeits-konstruktionen, ihrer Vielfalt und ihrer Differenziertheit.

Das bedeutet, Lehrer, Schulsozialarbeiter und systemische Berater gehen davon aus, dass Kinder aus Familien mit anderem kulturellen Hintergrund mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen im Klassenraum sitzen. Im besten Fall gehen sie davon aus, dass ihre Eltern sehr unterschiedliche Kompetenzen im Umgang mit dem System Schule mitbringen und daher unterschiedliche Ansprache brauchen.

Nicht alles, was man im Kontext Schule als Problem oder unerwünschtes Verhalten bezeichnet, wird von Menschen aus anderen Kulturen als problematisch gesehen (Molter, Nöcker 2012). Sowohl  die Auseinandersetzung mit Themen als auch das Finden von Lösungen kann sehr unterschiedlich sein und nicht immer ist es innerhalb einer Kultur vorgesehen, sich öffentlich (das gilt auch für Beratung) über Probleme auszutauschen. Innerhalb der Familien kann es dagegen ganz anders aussehen. Nationale, ethnische und kulturelle Herkunft bestimmen unterschiedliche Leitbilder und Normen der Familien.

Bleiben beide Seiten bei der Beschreibung der Unterschiede, geht Flexibilität verloren, sich auf wandelnde äußere Rahmenbedingungen einzulassen, um angemessen auf Veränderungen zu reagieren. Das bedeutet auch für die systemische Praxis, dass Anpassungsleistungen  auch von den systemischen Beratern und Supervisoren erbracht werden müssen.

Lehrer, Schulsozialarbeiter und systemische Berater sind heute mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Lebensformen und Lebenszielen konfrontiert. Diese finden sich sowohl innerhalb der eigenen Kultur als auch ihnen fremden Kulturen wieder und können ein Gefühl von Irritation und Fremdheit auslösen.

Wenn Lehrer, Schulsozialarbeiter und systemische Berater/ Supervisoren z.B. darauf bestehen, dass Schüler und Eltern die Bereitschaft zeigen müssen, über Probleme und Konflikte zu reden und diese sich ihrer Wahrnehmung nach verweigern, dann wird schnell von Widerstand, Unfähigkeit, Boykott, Mangel an Problembewusstsein und Veränderungsmotivation sowie mangelnder Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, gesprochen. Dabei wird leicht übersehen, dass der kulturelle Hintergrund der Schüler und ihrer Eltern ein kultursensibles Vorgehen verlangt. Fragen stellen als systemische Intervention z. B. erweist sich nicht immer als das probate Mittel, sich an Menschen aus fremden Kulturen anzukoppeln.

Wir haben den Eindruck, dass unsere westlichen Beratungskonzepte nicht immer den Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen aus fremden Kulturen gerecht werden. Wir als Professionelle müssen uns klar machen, dass Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund  eine ständige Auseinandersetzung mit dem für sie  neuen Kontext führen.

Anpassungsleistungen und die damit verbundenen Anforderungen sowohl auf der kognitiven als auch auf der emotionalen Ebene können zu Stress und krisenhaften Übergängen führen. Das Gleiche gilt auch für Lehrer, Schulsozialarbeiter und systemische Berater, die diese Anpassungsleistungen erbringen müssen. Im Sinne der Kybernetik 2. Ordnung handelt es sich um beobachtende Systeme: es sind, wie schon gesagt, beidseitig zirkuläre Anpassungsleistungen erforderlich.

Gesellschaftliche Vielfalt erfordert einen reflektierten Umgang mit Fremdheit, möglichen Vorurteilen, Stereotypen und Einschränkungen. Pädagogen und systemische Berater sollten ihre eigene Haltung überprüfen und wenn nötig neu definieren. (Zur Überprüfung könnte  sich ein Blick in die Veröffentlichungen des  statistischen Bundesamtes 2006-2009 – Ergebnisse des Mikrozensus über Leben in Deutschland, Haushalte, Familien und Gesundheit – lohnen.)  Nicht selten versperrt eine defizitäre Sicht den Zugang zu den Potentialen von Kindern und Eltern anderer Kulturen und blendet Chancen und Ressourcen aus.

Unsere Versöhnung mit der Paradoxie Differenz und Gleichheit versuchen wir dadurch zu lösen, dass wir Methoden entwickelt haben, die jenseits von gesprochener Sprache liegen. (Molter, Nöcker 2010, 2011)

Literatur

Demographiebericht. Bericht der Bundesregierung zur demographischen Lage und künftigen Entwicklung des Landes. Herausgeber: Bundesministerium des Innern. 2011

Familien mit Migrationshintergrund. Lebenssituation, Erwerbsbeteiligung, Verinbarkeit von Familie und Beruf. Herausgeber: Bundesmoinistrium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2. Auflage 2011

Menschenrechte und frühkindliche Bildung in Deutschland. Empfehlungen und Perspektiven. Herausgeber Forum Menschenrechte e. V., 2. aktualisierte Auflage 2013

Molter, H., Nöcker, K. (2010). Prozesse offen gestalten – ein Spaziergang. In: Wunderantwort, November 2010, Lenzburg Schweiz

Molter, H., Nöcker, K. (2011). Systemisches Denken und Handeln – (k)ein Spaziergang. In: Schindler, H., Loth, W., Schlippe, J.v. (2011). Systemische Horizonte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, pp.69-80

Molter, H., Nöcker, K. (2012). Dick ist nicht immer dick! In: systemagazin, Adventskalender 2012, 3. Dezember

Statistisches Bundesamt (2006). Leben in Deutschland, Haushalte, Familien und Gesundheit – Ergebnisse des Mikrozensus. Wiesbaden

Unterrichtung durch die Bundesregierung. Sechster Familienbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen und Stellungnahme der Bundesregierung. Herausgeber: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/4357, 2000

Welsch, W. (2002). Netzdesign der Kulturen. In: Zeitschrift für KulturAustausch 1/2002

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