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Ulrich Schlingensiepen: Nah-Distanzen

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Im Jahr 2000 zeigt die Staatsgalerie Stuttgart die Ausstellung des Stuttgarter Künstlers Platino: „ Nahdistanzen“. Es erscheint ein Katalog und ich sehe die Dinge viele Jahre später gedruckt vor mir, die ich in den 80er Jahren an den verschiedenen Orten in der Stadt, in Museen und Wohnungen, selbst erlebt habe. Platino nennt seine Kunst „Red Space 1“, „Space 2“ und „Space 3“. Es sind Malerei und Fotografien, seine sogenannten Externs, die alle Elemente eines Raums, Wände, Boden, Decke, Fenster etc. und die sich darin befindlichen Dinge des täglichen Gebrauchs in verschiedene Rottöne einfärben. Er zerlegt Räume in ihre Einzelteile, baut Rohre, Kabelstränge und andere Zuleitungen aus und verbindet das darunter Sichtbare neu, mit Tüchern und Leim und Farbe. So bearbeitet er verschiedene Wohnungen in der Stuttgarter Innenstadt. Innen und Außen werden vollständig aufgelöst, er verwirft, legt frei, baut und deutet um. Die Perspektiven verändern sich, nichts bleibt wie es ist und ist im nächsten Augenblick nicht mehr das, was es war, wird neu.
Ich fand das alles sehr beeindruckend  und hatte keine Ahnung von dieser Art  Perspektivenverschiebung, Irritation und Erweiterung des eigenen Erfahrungspotentials. Viele Jahre später begleite ich viele Open Space Großgruppenkonferenzen, welch ein Zufall.
Ende der 80er Jahre lerne ich Heinz Kersting kennen, Supervisor und Professor in Aachen. Ich war gerade mit meiner Supervisonsausbildung fertig und wir trafen uns in Hannover, wo er mit Barbara Hamann einen Workshop durchführte. Heinz hatte immer seinen Bücherkoffer dabei, Aluminium mit oben liegendem Klappmechanismus. Wer ihn kannte, erinnert sich sicher an seine Vertriebsfertigkeit. Völlig unspektakulär, nicht inszeniert, aber der Bedeutung eine andere Bedeutung verleihend und immer schmunzelnd: „hier, lies mal, das wird dir gefallen…“. Zwei Bücher waren es: Zum einen „Irritation als Plan – Konstruktivistische Einredungen“ von Theodor Bardmann, Heinz Kersting, Christoph Vogel und Bernd Woltmann sowie „Kommunikationssystem Supervision – Unterwegs zu einer konstruktivistischen Beratung“ von Heinz Kersting. Die Kunst spricht nicht, aber die beiden Bücher konnten dies. Sie hatten eine Sprache für das, was ich nicht ausdrücken konnte aber präsent war. „Space 1 – Space 3“ wirken weiter. Meine Fotografien von heute sind ähnlich. Sie entstehen im „Raum“ eher ungewollt, sie sind nicht inszeniert sonder sie passieren. Sie ereignen sich in einer Bewegung, im Innehalten, beim Arbeiten oder im Vorbeigehen im Raum. Was sich nicht ausdrücken lässt, zeigt sich. Und so kann es weitergehen.

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