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systemisch – was fehlt? Spiel!

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Wiltrud Brächter, Köln:

14adventDas Thema des Adventskalenders hat mich in diesem Jahr sofort angesprochen, gibt es doch eine Zugangsmöglichkeit zu Kindern (und Familien), die mir in der systemischen Therapie seit langem schon zu kurz kommt: das Spiel.

„Systemische Familientherapie: Kinder im Abseits“ – mit diesen Worten beschrieb Wilhelm Rotthaus vor gut zehn Jahren den Platz, der Kindern in der systemischen Familientherapie zu kam (Rotthaus 2003). Dabei bezog er sich auf Studien, nach denen sich in Familientherapien 85% aller Äußerungen der TherapeutInnen an die Eltern und nur 15% an die Kinder richteten (Cederborg 1997 – bezogen auf Therapien mit vier- bis siebenjährigen Kindern) und nach denen nur 22% der befragten Kinder ihre Erfahrungen im Familiensetting als positiv bewerteten (Lenz 1999).

Seitdem hat sich in der systemischen Therapie viel getan. Spezielle kinder- und jugendtherapeutische Aufbauweiterbildungen wurden begonnen und erste Lehrbücher zur systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen veröffentlicht (z. B. Retzlaff 2008). Dabei lag der Schwerpunkt zunächst darin, bereits bewährte Methoden der systemischen Familientherapie kindgerechter zu gestalten und Ideen für eine systemisch orientierte Einzelarbeit mit Kindern zusammen zu stellen. Mich irritierte, dass hierbei symptombezogene und therapeutengeleitete Interventionen dominierten, während Spieltherapie, bei der Kinder eigene Themen verfolgen und eigene Anliegen in die Therapie einbringen können, anfangs nur am Rande gestreift wurde. Noch immer scheinen mir die Möglichkeiten nicht wirklich ausgeschöpft zu sein, die sich aus dem freien Spiel von Kindern für eine systemische Therapiegestaltung ergeben.

Wiltrud Brächter

Wiltrud Brächter

Ich kam aus einer gestalttherapeutisch orientierten, kindertherapeutischen Weiterbildung zur systemischen Therapie, in der mir das Spiel von Kindern als therapeutisches Medium sehr wichtig geworden war. Systemische Kindertherapie hieß für mich, die spieltherapeutischen Zugänge des Handpuppenspiels, des kreativen Gestaltens, der Sandspieltherapie mit lösungsorientierten, systemischen Konzepten zu verbinden und das Spiel für die Arbeit mit Familien zu öffnen. Mich fasziniert bis heute, wie viele Ideen der systemischen Therapie sich im Spiel wiederfinden oder sich dort integrieren lassen: Hypothetische Fragen, aus der Therapie mit Erwachsenen als Gesprächstechnik zur Anregung neuer Perspektiven bekannt, lassen sich auch an Figuren einer Spielhandlung richten; das „So-tun-als-ob“ bietet spielerische Möglichkeiten zum Probehandeln und zur Annäherung an den gewünschten Zustand. Kinder, die in jüngerem Alter mit zirkulären Fragen überfordert sind, können durch einen Rollentausch andere Postionen einnehmen und sich in die Sichtweise anderer Personen einfühlen. Stockt das Spiel, können Handpuppen in einem reflecting team beraten, welche Handlungsmöglichkeiten den Protagonisten offen stehen. Durch die Vielfalt der gewählten Puppen bilden sich im Spiel verschiedene Ich-Zustände von Kindern ab (vgl. das Konzept des „inneren Teams“); schwierige „Seiten“ der eigenen Person können vom Kind an eine Puppe delegiert und von der Therapeutin wertschätzend angenommen werden, während das Kind in einer starken Rolle Sicherheit sucht. Spiel ist voller Problemexternalisierungen, die eine Unterscheidung von Problem und Person ermöglichen. Wie bei der time-line-Arbeit bieten Zeitreisen die Chance, aus einer Zukunftsposition auf gegenwärtige Herausforderungen zu blicken und hieraus neue Anregungen zu beziehen. Analog zur narrativen Therapie können „Problemerzählungen“ im Spiel aufgegriffen und neu erzählt bzw. neu gespielt werden („re-playing“; vgl. Brächter 2010).

Eine Phase freien Spiels als Bestandteil systemischer Therapien würde Kindern die Möglichkeit eröffnen, die verbal ausgehandelte Auftragsklärung mit den Eltern durch eigene Anliegen zu erweitern. Besonders wichtig ist dies meiner Erfahrung nach bei Themen, die in der familiären Kommunikation einem Tabu unterliegen. Sandbilder können zum Beispiel Gewalt in der Ehe der Eltern oder die Alkoholabhängigkeit eines Elternteils thematisieren, unter der ein Kind leidet; sie können auch frühere Traumatisierungen des Kindes anklingen lassen und der Therapie zugänglich machen, die von den selbst traumatisierten Eltern ausgeblendet wurden.

Findet das Spiel nicht nur hinter „verschlossenen Türen“ statt, wie es häufig an der üblichen  Settinggestaltung der Kindertherapie kritisiert wird, erhalten Eltern Einblick in das emotionale Erleben ihres Kindes, zu dem vor allem in Konfliktphasen oft kein Zugang mehr besteht. Eltern erhalten eine Rückmeldung darüber, wie ihr Erziehungsverhalten vom Kind wahrgenommen wird und welche Gefühle beim ihm entstehen. Einen jungen Alien kennen zu lernen, der einsam im Weltraum umherirrt, weil er von seinem Vater vom Heimatstern gestoßen wurde, kann den Streit um ein nicht aufgeräumtes Zimmer beim nächsten Mal anders von statten gehen lassen.

Welche Möglichkeiten Spiel in der Eltern-Kind-Kommunikation auch in belasteten Lebenssituationen bieten kann, soll abschließend ein Einblick in ein Fallbeispiel zeigen:

Tim, sechs Jahre alt und oft in Auseinandersetzungen mit anderen Kindern verwickelt, stellt rasch verschiedene Tiere in den Sand. Sein Sandbild zeigt anschließend, welche Gefühle und Bedürfnisse er mit den Tieren verbindet: Ein Hase sitzt gut geschützt in einer Höhle aus Baumstämmen, eine Maus findet Schutz unter einem Busch; beide Tiere vermitteln einen Wunsch nach Ruhe und Geborgenheit. Ein Kater repräsentiert dagegen einen anderen Ich-Zustand Tims, der in Beziehung zu seiner Mutter zu stehen scheint: Ruhelos streift der Kater umher und sucht nach Schätzen. Dabei hat er auch eine Krone entdeckt, die Tims Mutter gehört. Frau N. war in den letzten Jahren verschiedenen Belastungen ausgesetzt – die Suche nach der Krone lässt Tims Sehnsucht erahnen, die Mutter wieder in einem gestärkten Eltern-Zustand zu erleben. Tim bringt zum Ausdruck, dass die Schatzsuche für den Kater nicht ganz ungefährlich ist: Zur Absicherung stellt er ihm ein Kampfflugzeug zur Seite, das ihn immer wieder zu Hase und Maus zurück transportieren kann, falls er angegriffen wird. Auf dem Rand des Sandkastens stellt er anschließend Raubtiere auf, die die Tiere bewachen sollen.

Tim möchte sein Sandbild der Mutter zeigen; er ist stolz darauf, eine so ansprechende Landschaft gestaltet zu haben. Gemeinsam betrachten sie die Szene. Spielerisch setzt Tim seiner Mutter die Krone auf, die der Kater gefunden hat. Die Therapeutin spricht die wichtige Rolle an, die die Raubtiere am Ende zum Schutz der anderen Tiere übernommen haben. Sie fragt sich, ob auch sie einmal ausruhen können. Tim entwickelt die Idee, dass sich die Raubtiere abwechseln könnten. Im zweiten Sandkasten gestaltet er für sie eine schöne Umgebung: Unter einem Baum wird am Ufer eines Sees ein Bett aufgestellt, ein Panther wird von Tim hineingelegt und sorgfältig zugedeckt.

Nachdem er seinen kämpferischen und verteidigungsbereiten Anteil gut versorgt hat, kann sich Tim im Kontakt zur Mutter am Schluss der Stunde in einem anderen Ich-Zustand zeigen: mit der Handpuppe eines „Babyhunds“ geht er zu ihr, sagt ihr, dass er sie lieb hat und lässt sich von ihr halten und streicheln.

Literatur

Brächter, W. (2010): Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spieltherapie. Heidelberg (Carl-Auer).
Cederborg, A.-C. (1997): Young Children’s Participation in Family Therapy. American Journal of Family Therapy 25: 28-38; zit. nach Rotthaus (2003), s. u.
Lenz, A. (1999): Kinder in der Erziehungs- und Familienberatung. Ein Praxisforschungsprojekt. Erziehungsberatung-Info 54: 25-42; zit. Nach Rotthaus (2003), s. u.
Retzlaff, R. (2008): Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart (Klett-Cotta).
Rotthaus, W. (2003): Welchen Platz haben Kinder in der Systemischen Familientherapie. Eine kritische Bestandsaufnahme. Kontext 34,3: 225-236.

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