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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemisch – was fehlt? Ein Blick zurück in die Zukunft

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Martin Rufer, Bern:

22adventBin ich da nicht geneigt zu sagen „nichts“, denn nicht für nichts habe ich das „Systemische“ gewählt, schon früh als viele meiner jüngeren systemischen Kolleginnen und Kollegen noch gar nicht erst mal auf der Welt waren. Und doch wie war das damals genau vor 40 Jahren als ich an der Universität in meinem Psychologiestudium mit Lern- und Entwicklungstheorien, vor allen Dingen aber mit viel Empirie und Statistik konfrontiert und geimpft wurde, da war für viele von uns doch die Psychoanalyse ein interessantes, v.a. auch gesellschafts- und wissenschaftskritisches Gegenmodell, das unsere Lust am Denken und Debattieren anregte. Etwas später dann ging es zur Sache. Es war die Zeit der Encountergruppen mit viel Selbsterfahrung, bei mir im Rahmen einer Gestalttherapie. Bei Rogers fanden wir dann ein Modell für die Gestaltung der Beziehung mit künftigen Klienten. Auch wenn ich dabei immer kritisch blieb, hat dies bei mir bis auf den heutigen Tag Spuren hinterlassen, weil es eben einen selbst berührte und darum auch gut verstehen kann, warum heute einige Kolleginnen und Kollegen, darunter nicht wenige Systemiker, auf der Achtsamkeitswelle surfen und ins EFT abtauchen, mit Schematherapeutischem Fehlendes ergänzen oder in einer persönlichen Krise auch ganz gerne mal einen Psychoanalytiker aufsuchen.

Ja, und doch half mir all das, damals Ende der 70er Jahre, als ich auf der Erziehungsberatung erstmal besorgten Eltern und entnervten Lehrern begegnete und reihenweise Schulreife- und Legasthenieabklärungen machen musste, dann eben doch recht wenig. Genauso wie kurz darauf, als ich in der therapeutischen Gemeinschaft als frischgebackener Psychologe und viel 68er Idealismus mit jungen Drogenabhängigen konfrontiert wurde. Da erschien mir dann das „Systemische“, dieses ganzheitlichen Denken, das ich zwar von der Uni her kannte, praxisrelevanter und pragmatischer. Erst da konnte ich aber verstehen, was es heisst den Menschen eingebettet in seinem familiären und sozialen Kontext zu sehen. Und so begannen wir dann ja auch Anfang der 80 er Jahre die Eltern aktiv in unsere alternative Milieutherapie einzubeziehen, mit mehr oder weniger Erfolg natürlich, aber doch mit grosser Zufriedenheit, weil sich hier Perspektiven auftaten und ich das Gefühl hatte mit Minuchin, Haley, Ericson, später dann De Shazer, den Brigern, Mailändern und den Heidelbergern nun endlich eine therapeutische Heimat gefunden zu haben.

Martin Rufer

Martin Rufer

Und heute? Immer noch bezeichne ich mich gerne als Systemiker, auch wenn ich darunter wohl etwas Anderes verstehe als vor 40 Jahren, denn Heimaten verlässt man nicht gerne und kehrt mit den guten Erinnerungen ja auch immer wieder gerne dorthin zurück. Immer noch therapiere und unterrichte ich mit viel Herzblut, weil es ausser der Kunst wohl keinen schöneren Beruf gibt, der soviel mit einem selbst zu tun hat, auch wenn ich oft nicht genau weiss, was denn darin das „Systemische“ ist…

Dazu gehört auch, dass ich im Rahmen meiner Entwicklung nie mit Therapiemanualen konfrontiert wurde und solche auch nie gebraucht habe, kann aber heute sehr wohl verstehen, dass jüngere KollegInnen, die sich das psychotherapeutische Handwerk in strukturierten Curricula aneignen müssen auch strukturiert wissen und erfahren wollen, was sie denn tun müssen, wenn Frau S. in emotional aufgewühlten Zustand vor ihnen sitzt und ihnen in der Weiterbildung nahegelegt wird mit dem „ganzen System“ zu arbeiten. Das sieht sich ja dann auch immer so toll an, wenn die alten Häsinnen und Hasen ihre Therapiebänder zeigen. Aber eben morgen dann, in der Klinik, auf der Beratungsstelle da fehlt dann das Handwerkszeug, vielleicht auch der Mut und das Vertrauen in die „Selbstorganisation und Prozessteuerung“. Für mich mit ein Grund, mich nicht einfach in die warme, sichere Stube zurückzuziehen, auch im konzeptuellen Psychotherapiediskurs mehr oder weniger hart am Ball zu bleiben, zumindest solange, als ich mich selber noch auf dem Spielfeld tummle…

Ja, tut mir leid, schon seit je war ich ein kritischer Geist, gerade auch in den eigenen Reihen und hoffe sogar, dass ich diese Freude am Denken und Querdenken, wenn diese mir schon nicht ausgetrieben werden kann, doch auch nicht allzu schnell verlieren werde. Ein Credo aber wird bleiben: ich kann mich weder mit einem Berufsverband noch mit einer Therapieschule (und schon gar nicht mit nur einer) bedingungslos identifizieren, sondern eher demjenigen und denjenigen, die nicht Diagnosekriterien oder Störungsbilder ins Zentrum stellen, sondern das Nicht-Wissen und damit den lebendigen Menschen und nicht das System, die Begegnung also, vor allem aber das bedingungslose Mitgefühl, ganz besonders dann, wenn es in der Therapie zur Sache geht, denn sonst fehlt  in der Tat etwas, nicht nur in dieser Advents- und Weihnachtszeit…

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