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systemisch – was fehlt? Ein Blick auf den Flickenteppich systemischer Psychotherapie

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Martin Rufer, Bern:

1advent„Kommt drauf an, was man darunter versteht“, werden Sie zu recht einwenden, denn (genauso wie „analytisch“) ist „systemisch“ erstmal nichts mehr als das Adjektiv zum Subjektiv und wird von der Mathematik über die Politik bis hinein in die Alltagsprache verwendet. Dahinter mag zwar je nach Kontext ein (system-)theoretisches Modell stehen und im Bereich Therapie hat die Tradition der Familientherapie den Diskurs wesentlich mitgeprägt. Ein klares, identifizierbares und damit auch abgrenzbares Therapiemethodenprofil lässt sich allein daraus aber nicht ableiten. „Am wenigsten verstehe ich, was ihr Systemiker macht.“ So vor kurzem ein Professor in Klinischer Psychologie und Psychotherapie anlässlich eines Informationsanlasses für Studierende, die sich für eine postgraduale Weiterbildung in Psychotherapie interessieren.

Ganz offensichtlich: hier ist etwas falsch gelaufen und wahrscheinlich nicht nur hier und jetzt. Dieser Frage gelte es sich zu stellen, es sei denn man interpretiere seinen Kommentar als Feedback auf eine gelungene Verstörung und damit vielleicht als Anstoss für kognitive Umstrukturierung. Dies allerdings würde voraussetzen, dass man sich der eigenen Sache sicher ist, die eigene Irritation wegstecken oder externalisieren kann, um im Anschluss unter Seinesgleichen darüber zu lamentieren, dass die Zeit noch nicht reif ist, um die „frohe Botschaft“ auch zu verstehen …

 

Martin Rufer

Martin Rufer

Wäre da nicht eher ein Reframing angezeigt, denn nur wo etwas fehlt, hat Neues Platz. Das wusste doch niemand besser als unsere inzwischen meist verstorbenen Väter und Mütter, die vor Jahrzehnten aus der Alltagspraxis heraus die Lücke einer pathologie-, einsichts- und individuumzentrierten Psychotherapie gefüllt haben. Dazu eine promovierte Akademikerin (sich selber als „Borderlinerin“ etikettierend), die nach mehrmaligen Suizidversuchen, Kurzhospitalisationen schliesslich bei mir einen Therapieplatz findet: „Übrigens habe ich es satt dauernd von Therapeuten ,gerogert’ zu werden.“ Da frage ich mich aber ganz im Stillen: Wann und wo wird diese Klientin vielleicht schon bald einmal sagen: „Ich hab es satt dauernd mit Reframings Alles und Jedes utilisiert und systemisch zugetextet zu werden“…

Also, wie dann? Heute, wo Therapie weniger konfessionalisiert als professionalsiert wird, die Wissenschaft personzentrierte bzw. integrative Systemmodelle entwickeln, Systemtherapeuten achtsamkeits-, emotionsfokussierte und schematherapeutische Weiterbildungen aufsuchen, Institute querbeet methodenkombinierte und störungsspezifische Weiterbildungen anbieten und Patienten froh sind, wenn sie überhaupt einen Therapieplatz finden, da gilt es neu zu verstehen, was denn der Systemischen Therapie fehlen könnte: Der Blick über Kommunikation und Interaktion hinaus auf das Psychische, das Erleben, Wahrnehmen des einzelnen Klienten, die Gestaltung und Erfassung des Therapieprozesses entlang allgemeiner, schulenübergreifender Wirkprinzipien und vor allen Dingen die Positionierung dessen unter den gegebenen gesundheits- und berufspolitischen Bedingungen.

  Und „was bleibt vom Systemischen?“ Wohl nur das, was diese Komplexität erfassen, gleichzeitig vereinfachen und sich schulenübergreifend halten kann. Wahrscheinlich die Kontextsensibilität und Ressourcenorientierung, sicher die Selbstorganisation, Zirkularität und Prozessorientierung und adaptiv indiziert der Einbezug von Eltern und Partnern in die Therapie eines Patienten. Dies im Wissen, dass ja Alles Beziehung und ohne Beziehung Alles nichts ist, die Frage der Vater- oder Mutterschaft dieses Kindes dereinst aber wohl nicht mehr geklärt werden kann und auch nicht geklärt werden muss, weil dieses Kind inzwischen auch mit Stief-, Adoptiv- oder Pflegeeltern gross geworden ist, was mitunter gleichermassen Ernüchterung und Begeisterung auslöst…

Also werden wir uns weiterhin von Fall zu Fall hangeln, dankbar, wenn etwas gelingt, denn die Frage „Was fehlt“ zu beantworten, ist wohl leichter, wenn Sie aus einer Gaststätte kommen als aus der Praxis einer Therapeutin oder eines Therapeuten! Dies vor allem dann, wenn Sie noch gefragt würden, was denn nun das fehlende Systemische im soeben Erlebten gewesen sei. Und spannend, insbesondere aber therapierelevant würde es dann, wenn zudem die Antworten auf diese Frage von Klient/in und Therapeut/in im Hinblick auf Synchronisation bzw. Qualitätssicherung miteinander vergleichen würde…

Trotzdem oder gerade deshalb: Lesen Sie doch zum Schluss unten stehendes Zitat, auch wenn Sie sich selber weder als systemische/n Startherapeutin/en sehen noch als Klient/in oder Patient/in einer systemisch orientierten Therapie Selbsterfahrung haben, indem Sie die Beschreibung der Kochkunst eines mehrfach ausgezeichneten Kochs in die Welt systemischer Therapie übersetzen: „Als wir auf seine kulinarische Philosophie zu sprechen kamen, hatte er keine Lust auf grosse Theorien. Er sagte bloss, dass er sich bei der Auswahl seiner Speisen und Produkte nicht von Dogmen leiten lassen wolle. Regionalität zum Beispiel sei für ihn eine Entscheidungshilfe, aber kein Ausschließungsgrund. Caminada betonte, dass es ihm keineswegs um Konzeptkulinarik gehe, sondern darum, dass in seiner ,eher klassischen Küche’ ein roter Faden zu erkennen sei. Noch wichtiger sei nur, sagte er, dass jedes einzelne Gericht, das er aus der Küche schicke, yummi sei: dass es richtig gut schmecke und … (fügt später hinzu) auch ökonomisch funktionieren muss.“ (Seiler, 2014, DAS MAGAZIN, Nr.44, S.12)

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