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systemagazin Adventskalender: Vier Kerzen in Flammen, und dann der ganze Baum?

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Alexander Trost, Aachen: Vier Kerzen in Flammen, und dann der ganze Baum?

Wozu sind Adventskalender gut? Sie führen uns Tag für Tag mit neuen Überraschungen in die schwärzeste Nacht des Jahres, verbunden mit der Hoffnung, dass danach etwas wirklich Großes geschieht, das den Menschen Eintracht und Frieden, Erlösung von Verstrickung und Blindheit verspricht. Das zumindest war das ursprüngliche Narrativ der Vorweihnachtszeit.

Für uns SystemikerInnen ist mit der sozialrechtlichen Anerkennung das erste Kerzchen aufgeleuchtet. Das zweite wird vermutlich die Anerkennung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sein. Aber was ist mit der dritten und vierten Kerze für unser systemisches Mikro-System, aber auch fürs System Erde? Die Vier steht ja bekanntlich für die vollendete Gestalt, das Ganze. Werden systemische Therapie und Beratung in zehn Jahren wirklich DIE Bedeutung haben? Da darf man skeptisch sein…

Lassen wir doch einmal die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie beiseite. So wichtig das für’s systemische Ego und, bei aller Ambivalenz, erfreulich auch für die Anbieter*innen kassenfinanzierter Leistungen ist: das systemische Feld war gerade auch im Ringen um die eigenen therapeutische/beraterische Identitäten und Profile lebendig, kreativ und produktiv, und das wird hoffentlich auch so bleiben!
Nochmal zurück zum Endpunkt der Adventsgeschichte: Weihnachten! Verstörend daran ist doch (natürlich auch im systemischen Sinn) die verrückte Idee, dass ein mittelloses hilfloses Kind von obdachlosen Migranten das Heil der Welt in sich tragen soll!

Naja, so ganz abgedreht ist das aus heutiger Perspektive nicht: Neurowissenschaften, Säuglingsforschung und Bindungstheorie haben mittlerweile sehr gut belegt, dass die Fähigkeit eines Menschen sich selbst in Affekten, Impulsen, Gedanken und Handlungen zu regulieren, entscheidend von seinem personalen, emotionalen und sozialen Kontext von Beginn des Lebens an abhängt. Eine dialogisch-resonante, respektvolle und gleichzeitig haltgebende Beziehung in den ersten Jahren stellt die Weichen, ob jemand sein Leben in sozialer Kooperation und im Einklang mit seinem Denken und Fühlen gestalten kann, oder nicht. Ob jemand das umsetzen kann was sie/er als richtig und notwendig erkannt hat, und nicht nur seinen archaischen Überlebensimpulsen folgen muss, um nicht unterzugehen, egal was das kostet. Autoren wie Sven Fuchs, Politikwissenschaftler an der Uni Köln, haben aufgezeigt, dass „als Kind geliebte Menschen … keine Kriege an(fangen)“ (2012). Im Umkehrschluss neigen früh traumatisierte, vernachlässigte Kinder, deren Eltern ja oft in starker Verunsicherung Gefahr und Belastung leben und auch sozial nicht sicher sind, eher als eben „geliebte Kinder“ zu binären, einsinnigen, nicht kooperativen, und bis hin zu gewaltsamen Lösungen. Bindungssicherheit ist nicht alles, aber die erste und wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Leben im weiteren Verlauf gelingen kann, welchen Zumutungen der betreffende Mensch auch ausgesetzt sein mag.

„Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet“ sagen Maturana und Varela (1987). Es geht bei dem hier Genannten um eine grundlegende systemische Perspektive, die uns für die Zukunft ausrichten kann. Nach meiner Einschätzung hat die systemische Community damit längst begonnen:
o die Jahrestagungen des größten systemischen Verbandes, der DGSF (in der SG kenne ich mich leider nicht so gut aus) sind in den vergangenen Jahren immer politischer geworden: Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit sind viel diskutierte Themen; Eintreten für unsere Klientel in den unterschiedlichsten Feldern ist selbstverständlich geworden.

  • das Ringen um die sozialrechtliche Anerkennung hat den systemischen Ansätzen eine größere öffentliche Wahrnehmung, Präsenz und Respekt verschafft. SystemikerInnen werden inzwischen offiziell in Gesetzgebungsverfahren als Berater eingebunden (z. B. das „Gute-Kita-Gesetz“, auch wenn es jetzt leider ein „Schlechte(s) Kita-Gesetz“ geworden ist); sie werden im Netzwerk Frühe Hilfen gehört, systemische Haltung und Denkweise bekommen so eine breitere öffentliche Basis.
  • Nach der kognitivistischen Phase des frühen Konstruktivismus hat seit längerem eine Hinwendung zu affektiven und körperlichen Aspekten systemischer Wahrnehmung und systemischen Handelns stattgefunden. Systemische Arbeit ist damit im echten Sinne des Wortes ganzheitlicher geworden, betrachtet Menschen als Individuen und in ihren Mikro-und Makrosystemen als bio-psycho-soziale Einheiten. Dazu gehört auch eine Expertise in Traumaarbeit und –prävention auf vielen Ebenen und auch der höhere Stellenwert von Persönlichkeitsentwicklung in Ausbildung und Praxis.
  • Für systemische Konzeptualisierung gilt nicht mehr primär das Verstörungsgebot, es werden auch Metaphern aus der Säuglingsforschung und Bindungstheorie sowohl theoretisch als auch praktisch gelebt: Aspekte wie Containing, Bindungsorientierung, der Primat der Beziehungsarbeit gegenüber irgendwelchen Techniken ist immer bedeutsamer geworden.
  • Neben dem Lösungsaspekt ist der des Haltens, Begrenzens, Stoppens wichtig geworden. Das gilt nicht nur in der sozialen Arbeit und der Jugendhilfe, sondern auch z.B. in der Organisationsberatung und in der Präventionsarbeit. Nein-Sagen-Können, etwas zu lassen, auf etwas zu verzichten, hat angesichts von Ressourcenvergeudung („Zuvilielisation“, Ruth Cohn) und destruktivem Konsumverhalten eine neue Wertigkeit.
  • Wir erleben jetzt schon – nicht unbedingt systemisch gelabelt, aber als klare Herzensanliegen – eine faszinierende Vielfalt von höchst lebendigen Initiativen oft sehr junger Leute, die sich für nachhaltiges, klimaschonendes Wirtschaften, für soziale und globale Gerechtigkeit konkret und vor Ort einsetzen (dazu auch der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm: „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“, 2016). Das macht Mut!

Angesichts unabweisbar existenzieller Herausforderungen für die Zukunft der Menschheit und der ganzen Erde wie der rasante Klimawandel – in seiner Folge zunehmende Migrantenströme – diffuse Wut immer größerer Bevölkerungsgruppen angesichts der erlebten politisch-ökonomischen Ohnmacht – Verrohung im Umgang – Zunahme polarisierender, autoritärer und populistischer „Lösungstrancen“ zu Ungunsten demokratisch-ambivalenter Aushandlungsprozesse – und nicht zuletzt das ständige Ringen um Facts vs. Fake News …..

…was werden wir 2028 als systemisch Denkende, Fühlende und Handelnde tun?

  1. Wir werden eine „gute“ Wahrnehmung dessen, was um uns herum geschieht, geschult haben, uns erlauben zu benennen, was wir sehen, hören, spüren, und werden unsere Klient*innen darin unterstützen, das auch zu tun, und dann darüber reflektieren.
  2. Durch eine echte, greifbare und kongruente Arbeitsbeziehung fördern wir sekundäre Bindungssicherheit und das Entstehen epistemischen Vertrauens, also des Vertrauens in eine Informationsquelle als wahrhaftig, …und die entsprechende Unterscheidungsfähigkeit.
  3. Wir verlassen immer wieder unseren Elfenbeinturm der Einzelpraxis, Beratungsstelle, Uni und agieren expliziter als heute gesellschaftspolitisch, indem wir uns für partizipative und demokratische Prozesse einsetzen, uns soweit eben möglich, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen entgegenstellen: Arsch huh – Zäng ussenander, wie der Kölner sagt.
  4. Uns wird noch mehr als heute bewusst sein, dass wir nur wirksam sein können, wenn wir uns in unterschiedlichen Gruppierungen zusammenschließen und uns gegenseitig stärken.
  5. Wir werden friedfertig und achtsam agieren, in Respekt und Wertschätzung für unsere Gegenüber, und dabei durchaus systemisch trickreich, strategisch und ausdauernd vorgehen, weil wir wissen, wie stark die Beharrungskräfte sind (siehe Anerkennungsverfahren der Systemischen Therapie).
  6. Wir haben große Expertise in vielen psychosozialen Bereichen gewonnen, haben gelernt unsere Perspektiven immer wieder zu erweitern und zu überprüfen und wir sind in der Lage, unsere systemischen Kompetenzen anzuwenden:
  7. Z.B. finden wir Lösungsideen in aussichtslos erscheinenden Situationen, wir ermutigen Menschen, stärken Selbstwert und Selbstwirksamkeit, wir stoßen Perspektivenwechsel an….
    Zu schön, um wahr zu sein? Ja vielleicht, aber was sonst sollen wir tun?

Und: wir bleiben dabei angewiesen auf zwischenmenschliche Unterstützung, Solidarität und Korrektur, sehen uns auch immer wieder unseren Unzulänglichkeiten gegenüber. So ausgestattet könnten wir dann vielleicht einiges schaffen, und das wollen wir doch! Die systemische Expertise, verbunden mit einer soliden Persönlichkeitsbildung und einem tragfähigen Wertefundament bietet doch eine vergleichsweise sehr gute Ausgangsbasis, um Themen anzugehen, die uns heute noch als nicht zu bewältigen erscheinen.
Und da kommt diese höchst unwahrscheinliche Weihnachtsbotschaft doch gerade recht.

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