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systemagazin Adventskalender: Unsere Kernkompetenz liegt in der Reflexion

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Sabine Klar, Wien: Unsere Kernkompetenz liegt in der Reflexion

„Bietet der systemische Ansatz überhaupt Anhaltspunkte für ein „gutes Leben“ und die Möglichkeiten seiner Verwirklichung?“, fragt Tom Levold. Der Begriff des „guten Lebens“ erinnert mich an den des „richtigen Lebens“ – Adorno behauptet, dass es im Kontext der Gesellschaft früher wie heute keine Möglichkeiten gebe, es zu verwirklichen. „Mit der Weisheit, wie wir sie konzipierten, will es nicht mehr so ganz stimmen, weil der Begriff des richtigen Lebens heute problematisch geworden ist. (Vgl. Th.W. Adorno: Philosophische Terminologie, Bd. 1, S. 133) „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – auch dabei handelt es sich um einen Satz von Adorno. In der ersten, ursprünglichen Textfassung lautete der Satz: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“ (Th.W. Adorno: Minima Moralia; Gesammelte Schriften 4, Frankfurt/M. 1997, Seite 43) Trotzdem meint er, dass die Idee, wie sich ein „richtiges Leben“ führen ließe, für die Menschen wichtig sei – dass zwischen der Einsicht in die ganz unmögliche Darstellung eines richtigen Lebens und zugleich des Bewusstseins davon, wie es sein könnte, eine dialektische Spannung bestehe. „Wenn das Motiv des richtigen Lebens, der Gedanke, wie es sich leben ließe, ganz entschwindet, ist es mit der Philosophie erst recht aus.“ (Th.W. Adorno. Philosophische Terminologie, Bd. 1, S. 133)

Nicht nur mit der Philosophie, denke ich – auch mit der Psychotherapie.

Sabine Klar
(Foto: oeas.at)

Unsere aktuelle gesellschaftliche Umgebung ist von neoliberaler Geldorientierung, Standardisierung und Bürokratisierung geprägt. All das bringt (wieder) strengere und engere Bewertungskategorien mit sich – dadurch ergeben sich Anpassungsdruck, Ausgrenzungsdynamiken, unklare Zukunftsszenarien und die Gefahr der Verarmung. Diese Situation macht etwas mit den Menschen – sie kämpfen, bemühen sich, scheitern immer wieder, resignieren. Dann geht es ihnen nicht gut – sie haben Angst und sind wütend, frustriert, misstrauisch. Wir sind als Psychotherapeut_innen immer häufiger Zeugen von Erzählungen über Notlagen, die Arbeit an Veränderungen gestaltet sich schwierig. Therapien drehen sich im Kreis – die Klient_innen sind unzufrieden und wir müssen es aushalten. Manchmal gelingen gute Begegnungen – trotzdem greift das im Hinblick auf die Veränderung ihrer Lebensumstände eigentlich zu kurz. Viele unserer Klient_innen haben eingeschränkte Lebensmöglichkeiten und wir können in unserer Rolle mittels der begrenzten Zeit, die wir zur Verfügung haben, nicht viel tun.

Trotzdem kann auch unter diesen Umständen gerade systemische Therapie die Lebenslage von Klient_innen verbessern. Das hat aus meiner Sicht viel damit zu tun, Menschen Raum zu geben. Wir können Zugang zu unseren Klient_innen finden, sie im Hier und Jetzt zur Begegnung und zur Entspannung einladen, als Mensch da sein und reagieren. Wir können Respekt haben vor ihrer Lage und davor, wie sie damit umgehen – können ihnen vertrauen und ihr Selbstvertrauen wecken. Wir können Unlösbares gemeinsam mit ihnen aushalten, Einsamkeit lindern, Verständnis haben für ihre Wut, Resignation und Ablehnung  und sie gerade in diesen Reaktionen kennenlernen wollen. Wir können bei all dem den gesellschaftlichen Kontext im Blick behalten, in dem sie leben. Wir können das Überlebenswissen der Klient_innen bemerken (das oft sehr verborgen ist) und auf ungewöhnliche Lösungsideen neugierig sein (gerade auch auf solche, die von der Gesellschaft nicht begrüßt werden). Wir können sie mit hilfreichen Ressourcen in Kontakt bringen, die zuweisenden Personen und nahen Menschen einladen und zu einer besseren Beziehung zu ihnen beitragen. Wir können kleine Lustmomente mit ihnen entdecken und unterstützen, was sich auftut, bewegt oder erfreulicherweise zufällig geschieht. Wir können also Hoffnungsräume eröffnen, ohne billige Hoffnung zu machen – die Fähigkeit sich selbst und das eigene Leben zu gestalten wird gestärkt. Es ist in jeder Lebenslage möglich, Unterschiedliches zu denken und zu sprechen. Es ist möglich, ein wenig anders mit sich selbst und anderen umzugehen. Es ist möglich, sich mit manchen Impulsen, Eindrücken und Gedanken zu identifizieren und mit anderen nicht. Damit eröffnen wir einen der wenigen Zwischenräume, wo ein Mensch noch gefragt wird, was er will, was er nicht will und wo er Unterstützung braucht, um dorthin zu kommen, wohin er will.  Klient_innen lernen in diesem Prozess, nein zu sagen zu dem was nicht „Ihres“ ist und ja zu dem was „Ihres“ ist und sich bei dieser Unterscheidung zu vertrauen. Wir geben als systemische Therapeut_innen Raum, wenn wir uns mit dem eigenen Vorwissen nicht so wichtig nehmen und jeden Menschen und jede Situation als neu und besonders betrachten. Nicht unsere Klient_innen müssen unserem Angebot entsprechen, sondern wir kommen ihnen entgegen.

„Gibt es so etwas wie „systemische Werte“ und wie zeigt sich das im individuellen und sozialen Engagement?“, fragt Tom Levold weiter. Systemiker_innen denken an den Kontext und seine Wirkungen, beziehen also das relevante Umfeld der Klient_innen und ihre existenzielle Situation mit ein. Sie fördern soziale Kontexte, in denen es möglich ist, offen für andere Perspektiven zu sein, festgelegte Meinungen zu hinterfragen und miteinander auf gleicher Ebene zu reden. Die eigene Sichtweise und auch methodische Positionierung wird ständig im Hinblick auf ihre Relevanz für die konkreten Klient_innen reflektiert. Der bewusste Umgang mit Sprache und Denken und die Wirkung von Sprache und Denken auf  die Beziehungen zu Menschen und ihr soziales Handeln betreffen also unsere Kernkompetenz. Es geht darum, aufmerksam dafür zu sein, welche Kategorien mein Denken bildet, welche Begriffe es dafür verwendet und welche Aussagen es davon ausgehend trifft bzw. treffen kann. Nicht jede Unterscheidung bzw. Verknüpfung ist sinnvoll oder vernünftig nachvollziehbar. Klarheit im Denken und Sprechen hilft bei der Orientierung in der geistigen und sozialen Welt. Es schafft den diversen Zuständen, Gefühlslagen und Impulsen eine übersichtlichere Umgebung und ermöglicht, die „Stimmen und Geister“, die aus dem sozialen Umfeld und dem Innenleben heraus mitreden, dahingehend zu unterscheiden, ob sie dem eigenen Wollen bzw. der Vernunft entsprechen.

Ich persönlich fühle mich als Systemikerin nicht unbedingt dazu aufgerufen, qualifizierte Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Problematiken zu geben, für deren Beantwortung oder Lösung ich (außer rein privaten menschlichen Präferenzen) keine ausreichenden Kenntnisse habe. Ich will meine Kernkompetenzen zur Verfügung stellen, die aus meiner Sicht darin bestehen, dass ich Lösungsbewegungen erkennen und die komplexe Wirkung unterschiedlicher Perspektiven reflektieren kann. Ausgehend von systemischen Prämissen und Werten will ich eigene Vorstellungen auch dann kritisch in den Blick nehmen, wenn sie mir Geld, Sicherheit und Anerkennung versprechen. Ich möchte mich von gesellschaftlichen Vorgaben und Diskursen befreien, die dem systemischen Verständnis der Psychotherapie und meinen Klient_innen schaden.

Psychotherapie ist ein Instrument der Gesellschaft – sie will Menschen in schwierigen Lagen dazu anregen, ihr persönliches Veränderungspotential auszunützen, um ihr Befinden zu verbessern und sich und andere weniger zu stören. Sie eröffnet aber auch die Möglichkeit, sich gegen gesellschaftliche Zumutungen zu verwehren, und bietet einen Freiraum, in dem Klient_innen sich selbst bestimmen können.

Wenn ich mit aktuellen Entwicklungen konfrontiert bin, stelle ich mir allerdings oft die Frage, ob  auch die Psychotherapie bald eine Reparaturinstanz im Dienst gesellschaftlicher Interessen sein wird. Mitredende Vorstellungen darüber, wie Menschen sein sollen und wie Therapie wirken soll, wirken als „blinde Flecke“ oft sehr verborgen hinter gut gemeinten methodischen und technischen Zugängen. Sie hindern an einer entsprechend offenen Haltung und am Zugang gerade zu jenen Klient_innen, die sich ihnen nicht fügen können oder wollen. Besonders häufig sind aus meiner Sicht Leistungs-, Machbarkeits-, Störungs- und ökonomische Diskurse – man will als Therapeut_in wissen, wo´s langgeht und Techniken anwenden, die Veränderungsbewegungen der Klient_innen im Griff haben. Was stört, soll beseitigt werden und das erscheint auch machbar, wenn sich Klient_innen ausreichend motiviert und Psychotherapeut_innen ausreichend kompetent darum bemühen. Um keine zeitlichen und finanziellen Ressourcen zu verschwenden, soll diese Leistung effizient wirken. Klient_innen werden damit manchmal auch an kulturellen Standards gemessen und im Sinn einer falsch verstandenen Zielorientiertheit vor sich her getrieben. Die Rahmenbedingungen, unter denen sie psychosoziale Ressourcen in Anspruch nehmen können, werden immer enger. Sie sind wieder mit Interpretationen, Bewertungen und Vorgaben konfrontiert, die ihnen nicht entsprechen oder denen sie nicht entsprechen können. Verhalten sie sich nicht gemäß der Vorgaben, geraten sie in ein kraftraubendes Wechselspiel aus mehr oder minder freundlich gemeinter Zudringlichkeit und drohender Ausstoßung hinein. Institutionen und gesellschaftliche Gruppierungen, die an Anpassung und Integration in das dominante Kulturverständnis interessiert sind, fördern eine so verstandene, an Effizienz, Berechenbarkeit und Wirksamkeit orientierte Psychotherapie – vor allem dann, wenn sie Ressourcen einsparen, sich an standardisierte Vorgaben halten und bürokratischen Abläufen mehr Platz geben als den meist ganz anders gestrickten Menschen, für die sie eigentlich da sind.

An sich bietet systemische Therapie von ihrer konstruktivistischen und sozialkonstruktionistischen Grundhaltung her die reflexive Basis für ein Interesse an weltanschaulichen Aspekten im Hintergrund des therapeutischen Geschehens. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass zu wenig Zeit investiert wird, sich genauer mit den genannten Diskursen zu befassen, obwohl ihre Wirkung gerade im Zusammenhang mit der Lektüre von Praxisprotokollen und bei Fallbesprechungen im Zuge der Ausbildung und Supervision deutlich wird. Diese Entwicklung, die ich seit längerem wahrzunehmen meine, macht mir zunehmend Sorgen.

Deshalb gestalte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Lika Trinkl und einigen Gästen seit dem letzten Jahr einen von der ÖAS geförderten Zyklus von mehreren Abenden, der dazu einlädt, über die Einflüsse gesellschaftlicher Diskurse auf psychotherapeutische Prozesse zu reflektieren. Ziel ist, sich bewusster zu werden, welchen Einfluss diese in den eigenen Therapien haben und Möglichkeiten zu entdecken, sich im Dienst an den Klient_innen von hinderlichen Diskursen zu befreien – v.a. von neoliberalistischen Beeinflussungen und Vereinnahmungen. Bisher haben wir die Themen „Machbarkeit“, „Leistung“, „Störung“ und „Ökonomie“ behandelt – nun folgen „Angstproduktion“, „Fremdheitserfahrungen“ und „Anpassungsdruck“. Texte zum Nachlesen (inkl. Literaturempfehlungen) gibt es hier. Über Rückmeldungen würden wir uns freuen.

Tom Levold fragt am Schluss, in welchen Feldern das Engagement von Systemikern vermisst wird. Aus meiner Sicht gibt es im Kontext systemischer Psychotherapie viele bemerkenswerte Initiativen. Sie beziehen marginalisierte Klient_innengruppen, multikulturelle und queere Aspekte ein, achten auf eine gendergerechte Sprache, verhandeln im Dienst an den Klient_innen und am Psychotherapieverständnis mit Gesundheitsträgern und Institutionen, setzen sich mit Berufsgruppen auseinander, die ganz anders denken und handeln als wir, reflektieren ihre Vorannahmen, blinden Flecke, gesellschaftlichen Beeinflussungen u.v.m.. Es sind die Bereiche Wirtschaft und Politik, wo mir systemische Einflüsse immer wieder schmerzlich abgehen (vielleicht weiß ich ja nur nichts darüber). Wir können ausgehend von unseren Prämissen zwar nicht gezielt intervenieren, hätten aber meiner Ansicht nach doch eine hohe Kompetenz, komplexe Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und Verstörungsmöglichkeiten zu entdecken.

Es stellt sich daher für mich die Frage, wie in diesen Bereichen systemische Kompetenz Raum und Einflussmacht bekommen und was dazu beitragen könnte.

Am Schluss möchte ich auf das Galveston Manifest verweisen, das in pointierter Weise auf systemische Haltungen und Werte verweist – man könnte es unterschreiben…

 

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