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systemagazin Adventskalender: sich befremden lassen

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Edelgard Struß, Köln: Sich befremden lassen

3adventIns Museum für Ostasiatische Kunst gehe ich gerne, um mich befremden zu lassen. Wie beim Reisen in unbekannte Gegenden kann ich hinterher nicht sagen, ob ich mehr über das Fremde erfahren habe oder mehr über mich selbst. Oder mehr über etwas ganz anderes.

 

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Einmal saß ich in der Cafeteria im schönen Foyer des Museums. Im verschneiten Innenhof waren zwei tibetanische Mönche zu sehen, die eine Zeremonie ausführten. Währenddessen kamen Handwerker mit einem Gabelstapler, Leitern und Werkzeug ins Foyer gefahren. Sie fingen an, ein heiliges Tor für die kommende Ausstellung aufzubauen. Eine Viertelstunde später kamen die Mönche herein, um mitzumachen. Sie trugen jetzt, im beheizten Foyer, Vliesjacken über ihren traditionellen Gewändern. Die Gäste der Cafeteria, bisher damit beschäftigt, aus dem Fenster auf den See zu schauen, zu lesen oder sich zu unterhalten, hatten nach und nach ihre Stühle so umgestellt, dass sie den Handwerkern und Mönchen bei der Arbeit zuschauen konnten. Wir waren zum Publikum einer Performance geworden – ähnlich vielleicht wie bei ‚Some Cleaning‘, als die „Wartungs-Künstlerin“ Mierle Laderman Ukele 1996 die Reinigung von Kunstgalerien performte und erstaunte PassantenInnen sie vom Bürgersteig aus beobachteten.

 

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Fröhlich befremdete Fragen in der Cafeteria. Hatte es sich bei der Zeremonie der Mönche um einen Auftritt gehandelt? Um ein Gebet? Um den Probedurchlauf eines Rituals für die Ausstellungseröffnung? Sind die öffentlichen Aufbauarbeiten als Werbung für die Ausstellung gedacht oder geht es Handwerkern und Mönchen um normale Arbeitszeiten und das Tageslicht? Ist das Ganze von der Museumsleitung vielleicht sogar als performative labor konzipiert? Bedeutet die Mithilfe der Mönche beim Aufbau des heiligen Tores für sie eine Fortsetzung ihrer religiösen Handlungen? Oder handelt es sich für sie genauso um Arbeit wie für die Museumshandwerker? Gibt es noch etwas Heiliges an der Situation? Werden die Mönche dafür bezahlt – Mindestlöhne? Flächentarife für Museumshilfskräfte? Künstlersozialkasse? Wie ist es für die Mönche und die Handwerker, von einem ad-hoc-Publikum beobachtet zu werden? Und wenn sich das Ganze jetzt in Tibet abspielen würde im Museum für Westeuropäische Kunst ….?

struss2Weil ich so begeistert bin, dass es Leute gibt, die nicht SupervisorInnen und Coaches sind und sich mit genau diesen Fragen beschäftigen, hier zum Schluss ein Zitat und eine ausführliche Literaturangabe.

Das Konzept der performative labor: „evoziert […] weniger den Topos der Bühne als jenen des von Performenden, Gastgebenden und Besuchenden geteilten (Ausstellungs-)Raums. Die soziohistorischen Implikationen des Ausstellens und Konsumierens einer zugleich als körperlich, konzeptuell und affektiv gefassten künstlerischen Arbeit werden Teil eines kollektiven Geschehens.“ S 195 aus: Im Körper von Kuratierten: „You should always have a product that’s not you” Szene 6 – Performer_innen werden gecastet und vertraglich zu Arbeit verpflichtet. Abramovic´ Casting für das Gala-Dinner im Museum of Contemporary Art Los Angeles 2011. Adam Linder, Some Cleaning. – von Sabeth Buchmann und Kai van Eikel in: Netztwerk Kunst + Arbeit.art works. Ästhetik des Postfordismus. B_books.Berlin 2015

 

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