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systemagazin Adventskalender: Kontextbewusstsein – bewusst Kontext sein

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Ulf Klein, München: Kontextbewusstsein – bewusst Kontext sein

Von Gregory Bateson stammt die Sentenz „Der Kontext bestimmt die Bedeutung“, und da ich nun mal Kontext meiner Mitmenschen bin (wie sie der meine), bemühe ich mich diese Rolle bewusst zu gestalten. Das fängt damit an, dass ich schon morgens beim Brötchenholen der Bäckersfrau das eine oder andere Kompliment mache, dass ich den nachbarschaftlichen Plausch im Treppenhaus pflege oder der alten Dame aus der Nachbar­wohnung den Müll runtertrage. Was natürlich auch dazu geführt hat, dass ich selbst einen freundlichen Kontext habe: Die Bäckersfrau steckt mir schon mal ein paar Kekse extra zu, die Nachbarn nehmen meine Pakete an, und die Nachbarin verwahrt meinen Reserveschlüssel.

Klingt banal, erscheint mir aber bei einer systemtheoretischen Auseinandersetzung mit der Frage nach Werten doch wichtig. Noch bedeutsamer ist mir das Bewusstsein „Ich bin Kontext“ allerdings bei der Frage nach sozialem oder politischem Engagement. Auch da habe ich mir (nach einer ganzen Reihe frustrierender Erfahrungen in Gruppen, Institutionen und Verbänden) die Haltung zu eigen gemacht, mich bewusst als Kontext zu definieren. Und das heißt, dass ich bei Ideen und Initiativen, die mir wichtig sind, in der Regel zunächst als »Zweiter« agiere.

Ulf Klein

Dabei gehe ich von dem systemtheoretisch begründeten Gedanken aus, dass Ideen und Handlungsimpulse, die ich habe, auch anderen Menschen in den Sinn kommen. Ist die Zeit reif, kommt es zu einem emergenten Geschehen und innovative Ideen drängen ans Tageslicht. Viele wichtige Ideen der Menschheit, Schrift z.B. oder Ackerbau sind unabhängig voneinander an unterschiedlichen Stellen der Welt „erfunden“ worden. Als ich 1989 die Fachzeitschrift für Psychodrama ins Leben rief (recht blauäugig, wie solche Initiativen eben manchmal sind), stellte ich im Gespräch unter VerbandskollegInnen fest, dass meine Initiative im Lauf der Zeit schon die dritte war, solch ein Journal zu lancieren. Die Zeit war offensichtlich reif für diese Idee.

Habe ich also die Idee für eine Initiative, so betrachte ich diese Idee weniger als „die meine“ sondern als „Kind des Zeitgeistes“, das mich sozusagen als Medium benutzen möchte, um in die Welt zu kommen. Kitzelt mich also eine konkrete Idee, drängt sie mich, hinausposaunt zu werden (weil sie ja eine ganz tolle, schöne, wichtige und nützliche sei) und schmeichelt sie mir, ich sei doch was ganz Besonderes, weshalb sie gerade mich inspiriert habe und genau mich nutze, um in die Welt geboren zu werden. Außerdem würde ich sicher reich belohnt werden, wenn ich ihr hülfe, Ruhm und Ehre seien mir sicher… Dann bremse ich sie erst mal, rate ihr, sich erst mal zu orientieren, ob sie denn überhaupt Unterstützung und MitstreiterInnen findet, oder ob all die etablierten Platzhirsche von Ideen, die schon in der Welt sind, sich ihre Initiative verbitten würden, ihre Pfründe verteidigen würden und ihr Geburt und Leben schwermachen werden.

Ich verordne ihr also eine Reifezeit, in der ich mich mit ihr zunächst einmal innerlich auseinandersetze (belasse sie also im psychischen System, das ich bin). Noch setze ich sie nicht dem Dschungel von Kommunikationen aus, der (mit Luhmann) die Welt Sozialer Systeme ausmacht. Möglicherweise lasse ich ihr im Gespräch mit vertrauten Kolleginnen und Kollegen ein wenig Spielraum, so dass sie (und ich mit ihr) erkunden kann, wie sie möglicherweise aufgenommen wird. Kleine Testläufe in vertrautem Kreise sind das.

Und ich halte Augen und Ohren offen, ob „meine“ Idee möglicherweise versucht, auch andere Menschen als »Medium« für ihren Übertritt in die Welt zu gewinnen. Entdecke ich Anzeichen dafür, dass sie auch bei anderen Personen „anklopft“ und sie zu entsprechenden Äuße­run­gen und Handlungen inspiriert, dann denke ich: „Ach, da sind wir ja schon zwei!“ und unterstütze diese Menschen bei ihren Initiativen, verbünde mich mit ihnen bei den Bemühungen, „unserer“ Idee einen sicheren und wirksamen Übertritt in die Welt zu verschaffen ohne dass sie gleich als heiße Luft verpufft. Indem ich mich als »Zweiter« einem anderen »Medium« beigeselle, sind wir schon zwei, die als wohlwollender Kontext dieser Idee in die Welt helfen: glatt eine Verdoppelung. (Wer dann beim Umsetzen und Ausführen der Idee federführend ist, ich oder der/die Andere oder beide gemeinsam, das gilt es dann noch auszuhandeln.)

Betrachtet man Soziale Systeme mit Luhmann als Systeme von Kommunikationen, dann beginnt ja jede Initiative und jedes Engagement zunächst einmal mit einer Idee oder einem Handlungsimpuls, die, da ja neu, systemtheoretisch als Fluktuation, Regelabweichung oder Musterunterbrechung betrachtet werden kann. SystemikerInnen ist natürlich klar, dass Systeme derlei Verstörung nicht sonderlich mögen. Neue Ideen oder gar Initiativen sind Unruhestifter für etablierte Kommunikationsmuster, sie machen es notwendig, dass man sich mit ihnen näher befasst, was Energie- und Ressourceneinsatz erfordert. Daher bemühen sich die etablierten Muster solchen Regelabweichungen gegenzusteuern, sie zu kompensieren und dafür zu sorgen, dass sie wirkungslos bleiben. Systeme sind tendenziell ja eher konservativ. Und in der Konsequenz werden neue Ideen und Initiativen häufig schon im Moment ihrer „Geburt“ durch Abwertung und Gegenrede gleich wieder aus der Welt geschafft. Indem ich als »Zweiter«, also als »Kontext«, auftretende Ideen und Initiativen unterstütze, wird aus dem einzelnen (noch personengebundenen) Impuls bereits der Beginn eines neuen Strangs von Kommunikationen. Womit dann auch schon eine erste kooperative Beziehung begründet ist, getragen von den beiden als »Medium« fungierenden AkteurInnen. Die können dann natürlich den Faden der Kommunikationen weiter spinnen, dabei weitere der Idee wohlgesonnene KommunikationspartnerInnen gewinnen und so die neu in die Welt gekommenen Idee pflegen, schützen und stabilisieren. Und damit wird es für die im Kontext immer vorhandenen »AgentInnen« der Stabilisierungs- und Kompensationstendenzen schwieriger, ihren Job zu machen.

Natürlich unterstütze ich Ideen und Initiativen nicht wahllos, sondern nur die, die mir selbst am Herzen liegen bzw. die ich für nützlich halte. Bei Ideen, von denen ich nichts halte, werde ich dagegen selbst zum Kompensations­mechanismus, indem ich drüber hinweggehe oder mich dagegen ausspreche.

Mich selbst als Kontext zu definieren ist natürlich nur ein Teil meiner systemischen Lebensführung. Auch hier kommt es wie bei allen Dingen des Lebens auf das rechte Maß an. Würden wir alle uns ständig bemühen, unseren Mitmenschen ein guter – sprich komplementär kommunizierender – Kontext zu sein, dann dürfte die Welt bald in Harmonie ersticken. Denn wenn alle sich bemühten, »Zweiter« zu sein, dann würde es nie einen »Ersten« geben, denen sich die »Zweiten« anschließen können. Und alle könnten bis zum St. Nimmerleinstag warten, bis es zu Innovationen kommt.

Und: wir alle haben ja auch unsere legitime Eigeninteressen, die es wahrzunehmen gilt. Unvermeidlicherweise geraten wir dabei immer wieder in Konstellationen mit Interessensgegensätzen zwischen uns und unseren Kooperationspartnern, in denen es dann heißt: „Es kann nur Einen geben!“ und „the winner takes it all!“. Sicherlich, eine systemische begründete Lebensführung hilft, solche Situationen der binären entweder/oder-Logik zu reduzieren, aber eben nicht immer. Denn wie wir alle schmerzlich wissen: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden.

Das sind dann Situationen, in denen die systemtheoretische Erkenntnis „Das energiereichere System versklavt das energieärmere“ (Hermann Haken) Geltung erhält. Nur, was heißt das dann konkret? Und wie gelingt es, in solchen Konstellationen das energiereichere System zu sein? Aber darauf einzugehen, das würde unseren vorweihnachtlichen Rahmen hier allerdings sprengen.

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