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systemagazin Adventskalender: Engagement? — Degagement!

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Lothar Eder, Mannheim: Engagement? — Degagement!

Sich zu engagieren hat einen hohen Stellenwert. Es ist moralisch hoch angesehen, vor allem wenn es um die vermeintlich „gute Sache“ geht. Jedoch sind an das Engagement auch (systemische) Fragen zu richten, etwa die, welche Auswirkungen das Engagement wohl haben wird? Und es stellt sich die Frage, welche impliziten Überzeugungen dem individuellen und kollektiven, oder gar kollektiv geforderten Engagement zugrundeliegen. Kollektiv eingefordert, das heißt: Wer nicht mitmachen will, wer vor den Folgen warnt, wer sich nicht einverstanden zeigt, wer Kritik oder gar Protest formuliert, der läuft Gefahr, moralisch diskreditiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

Wir leben in einer Zeit, in welcher die Forderungen nach globalen, ja ubiquitären Rettungen (das Klima, Millionen von Menschen, die migrieren wollen, das Tilgen jeder vorgeblichen Ungerechtigkeit und Unterschiedlichkeit) die mediale Sphäre und den öffentlichen Diskurs dominieren.

Wie selbstverständlich gehen wir davon aus, dass es möglich ist, alles Übel in der Welt zu tilgen. Diese Idee aber ist keineswegs selbstverständlich, sie ist eine Kreation der Moderne. Der Wissenschaft und dem kollektiven Einsatz guter Absichten wird dieses Projekt überantwortet. Ja, es scheint, dass dies nicht nur eine Hoffnung ist, sondern mehr noch eine Erwartung, eine Forderung gar. Befreiung von Leid, Befriedigung von Bedürfnissen, Zugang zu weitreichenden Privilegien sind in der späten Moderne keine bloße Hoffnung Verzweifelter mehr. Sie gelten vielmehr als  Recht, auf das Anspruch erhoben werden kann.

Zunächst klingt das gut. Aber der Teufel ist ein Eichhörnchen. Und er steckt bekanntlich im Detail. Hier steckt er, neben der Frage nach der Machbarkeit und den Auswirkungen solchen Handelns, in den implizit ideengeschichtlichen Details. Und er steckt in den Aspekten der seelischen Verfassung und Stimmung, die damit einhergehen.  Spätestens seit Nietzsche gilt Gott als tot und der Mensch als „Schöpfer der Geschichte“ (Fichte) ist an seiner Statt verantwortlich für das Leid in der Welt und dessen Beendigung. Dies ist (auch) die Folge der Aufgabe und Verneinung von Transzendenz. Das jetzige Leben gilt als einzige und letzte Gelegenheit, die eigenen Angelegenheiten und die anderer zumindest einer Besserung, wenn schon keinem paradiesgleichen Zustand  zuzuführen.

Lothar Eder

Philosophie und Theologie vergangener Zeiten beschäftigten sich mit der Frage, warum Gott das Leid in der Welt zulässt. Nun, nach der Exkommunikation des Göttlichen aus der Lebenswelt des Menschen, sitzt der Mensch selbst auf der Anklagebank, wenn es um die Frage geht, warum Menschen leiden müssen. Odo Marquardt verstand dies als eine Art Dauertribunalisierung des Menschen durch den Menschen selbst: er erklärt sich selbst (seine Gattung) zu einem der grundlegenden Erlösung anderer Menschen fähigen Wesen. Und da der Zustand der Erlösung in dieser Welt (immer noch) nicht zu haben ist, vollzieht sich eine Daueranklage. Es ist dies ein Mechanismus vergleichbar mit demjenigen der permanenten Revolution, der letztlich wohl seine Kinder fressen wird. Kaum einer fragt: ist das zu schaffen?

Aus psychologischer Perspektive kann man hier zwei dynamische Strukturelemente herausschälen: den Aspekt des Manischen (in meiner Sprache auch: des Ikarischen, also des Ikaros-Gleichen) und den des Narzissmus. Der geradezu beispielhafte Satz „Wir schaffen das“ beinhaltet beides. Zum einen das Schaffen: es wird nicht nach der Größe der Aufgabe gefragt, sie wird weder in ihrer Qualität noch in ihrem Ausmaß analysiert, eingeordnet und in Relation zum eigenen Vermögen gestellt. So würde jeder vernunftbegabte Mensch es handhaben, außer er ist in der Pubertät oder in Not.  Dies ist der manische Modus: Daidalos hatte für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel hergestellt, die aus einem Gestänge, Wachs und Federn bestanden. So wollten sie aus der Verbannung im Labyrinth des Minotaurus auf Kreta fliehen. Daidalos schärfte seinem Sohn ein, nicht zu hoch zu fliegen. Ikaros aber genoss das Fliegen so sehr, dass er meinte, ein Vogel zu sein. Er vergaß seine Begrenzungen als Mensch und er vergaß alle Vernunft. Er flog so hoch, dass die Sonne das Wachs der Flügel schmolz. Also stürzte er in die Tiefe und starb. Die Insel, auf der er zerschellte, heißt heute noch Ikaria.

Der Narzissmus liegt im „Wir“ – „Wir schaffen das“. Dies heißt: weil wir so großartig, so vermögend, so hilfsbereit, so mitfühlend usf. sind, ist uns keine Aufgabe zu groß und wir denken nicht realistisch über die Folgen unseres Tuns nach. Dies ist gewissermaßen eine Selbstaufwertung, ein Sich-selbst-Gefallen im Gutsein. Und diese Selbstaufwertung dient als Gegenmaßnahme gegen das Gefühl der eigenen Begrenztheit und Endlichkeit. Unter den vielen kritischen Stimmen zur Krise durch die ungebremste Massenmigration nach Deutschland gibt es den Medienwissenschaftler Norbert Bolz, der zu Protokoll gab, die Deutschen wollten als „Weltmeister im Gutsein“  gelten, indem sie sich der Welt als Gegenentwurf zu den vormaligen „bösen“ Deutschen präsentieren und damit endlich von ihrer Schuld befreien. In diesem Licht erscheinen die Vorgänge plausibel, aber nicht weniger unvernünftig.

Dem gegenüber steht der barmherzige Samariter. Er fand auf seiner Reise einen Elenden im Straßengraben. Er hatte Mitgefühl mit ihm und brachte ihn in eine Herberge, wo er seine Wunden versorgen ließ. Zudem bekam er Essen und Trinken sowie ein Lager für die Nacht. Da der Samariter weiterziehen musste, ließ er dem Wirt ausreichend Geld da und ging seiner Wege. Er tat als mitfühlender Mensch das, was er tun konnte. Er bewarf den Elenden nicht mit Teddybären und er lud nicht alle Hilfsbedürftigen in sein Land ein. Er verlangte auch nicht von seiner Familie, seinem Dorf oder gar seinem Land, dass sie das Leid in der Welt tilgen müssten, ansonsten wären sie „Dunkelsamariter“. Er leitete aus seinem Tun keinen (hyper)moralischen Imperativ ab, sondern half nach seinen Möglichkeiten. Und, so meine Annahme, er pflegte nicht nur die Xenophilie, sondern vor allem auch die Oikophilie (oikos = das Eigene, die Heimat, das Vertraute), die in unseren Zeiten so schmerzlich fehlt.

Ich kann persönlich mit dem Begriff des „systemischen Engagements“ wenig anfangen. Es scheint mir sinnvoll, sich zu engagieren, aber das hat mehr mit meinen Grundüberzeugungen, Notwendigkeiten und Neigungen zu tun. Was hierzulande  und heutzutage unter „Engagement“ verstanden wird, speist sich in weiten Teilen aus dem 68er Geist, der eigentlich ein 67er Geist ist: dies war das Jahr des Attentats auf Benno Ohnesorg, verübt von einem vom der DDR gedungenen Berliner Polizisten, das die später so genannte 68er Bewegung wesentlich befeuerte. Das Feuer hält an und diejenigen, die sich an ihm auch heute noch wärmen (und das ist ein Großteil der intellektuellen und politisch-medialen Eliten), hinterfragen es so gut wie nicht. „Welches Feuer?“ fragen sie, angesprochen auf ihre impliziten Ideen. So wie der Fisch fragen würde „welches Wasser?“, wenn man ihn auf seine Lebenswelt anspricht.

„Systemisch“ ist für mich eine immer wieder faszinierende Haltung zur Welt, zur Betrachtung, zur Schau auf die Dinge, die anderen und mich. „Systemisch“ heißt für mich: mich orientieren an der Frage, wie organisiert sich ein Prozess, eine Dynamik, wie schließt er immer wieder an sich selbst an? „Systemisch“ kann heißen: einem Patienten, einer Klientin gegenübersitzen im Gespräch und dann Momente erleben, in denen ich die Selbstorganisation eines Prozesses, vielleicht gar eine  Veränderung zum Greifen nahe zu erkennen meine. „Systemisch“ kann aber auch heißen, die Selbstorganisationsprozesse in meinem Garten staunend-freudig zu beobachten und diese Prozesse im Sinne der Permakultur zu unterstützen und zu lenken – was oft bedeutet, mehr zu lassen als zu tun. Die Pflanzen, die Kleinlebewesen im Boden, die Schmetterlinge, Insekten, Vögel und Igel danken es mir. Und ich fühle mich von ihnen wunderbar vitalisiert und beschenkt.

Jean-Paul Sartre, einer der wichtigsten Philosophen der 68er Bewegung, entwarf in seinem Werk „Das Sein und das Nichts“ das Degagement als notwendigen Gegenpol zum Engagement. Er schließt damit an bekannte Begrifflichkeiten an: die vita contemplativa als Gegenpol zur vita activa der Heideggerschülerin Hannah Arendt beispielsweise. Oder auch an asiatische Traditionen mit ihrem inneren Weg, der sich losgelöst von der äußeren Welt vollzieht – zu finden auch in den mystischen Traditionen des Christentums.

Warum ist das Degagement so wichtig? Nun, es ist schlichtweg lebensnotwendig. An Stress kann man, zumindest indirekt, sterben. Und die zunehmende Geschwindigkeit der Lebens- und Arbeitsabläufe, die fehlende organische Rhythmisierung und das ständige Verfügbarsein bedeuten eine Zunahme von Stress. Degagement, das bedeutet: Zurücktreten, Heraustreten aus der äußeren Welt, auch aus der inneren Welt der Gedanken und Sorgen um die Dinge; Heraustreten aus den eigenen antreibenden Überzeugungen. Degagement, das ist die Distanz zur Welt und zu mir selbst. Der dritte Ort, der das Herunterregulieren von vegetativer Spannung, der die positive Selbstregulation ermöglicht, um wieder mit sich und der eigenen Kraft in Kontakt zu kommen.
Diese Kompetenz zum Degagement scheint gerade in den aktuellen Zeiten wichtig. Globalisierung und Digitalisierung zerstören jedes menschliche Maß und jede organische Rhythmisierung. Schon die Industrialisierung und die Technisierung der menschlichen Sphäre bedeuteten einen Angriff auf natürliche Rhythmen. Die „Neurasthenie“, die nervös-depressive Erschöpfung (heute nennt man das meist „Burnout“) trat als Pathologie zunehmender Geschwindigkeit und Reizflut zu Beginn des 20. Jh. in Erscheinung. Maschinen aber brauchen Ruhezeiten. Sie müssen abkühlen, sie müssen gewartet werden, sie können nicht rund um die Uhr laufen. Und: Maschinen haben einen Ort. Die Digitalisierung hingegen ist ortlos und sie ist ständig. Sie trägt beide Aspekte, den der Manie und den des Narzissmus in sich. Die digitale Welt sagt: es gibt keine Grenze, nirgendwo. Du kannst überall sein, immer. Dir sind keine Grenzen gesteckt. Du kannst jederzeit in andere Identitäten schlüpfen („second world“). Du sollst ständig verfügbar sein. Und ich sorge dafür, dass du dies freiwillig tust, weil du „drin“ sein willst. Du willst alles sehen, was ich dir zeigen kann, du willst deine Emails „checken“, du willst in Verbindung sein, weil du dich sonst ausgeschlossen fühlst.

Aus gesundheitlichen Gründen, weil wir uns selbst positiv regulieren müssen, ist der Abstand zur Welt und zur eigenen Verstricktheit mit der Welt so notwendig. Deutlich wurde mir das einmal mehr in der Beratungsarbeit mit einem Klienten, über die ich kurz berichten will. Er ist Mitte vierzig und arbeitet als Ingenieur und Projektleiter für ein weltweit operierendes Unternehmen, das Anlagen baut. Seine Schilderung ist typisch, sie begegnet mir in meiner Praxis fast täglich – die Schilderungen vieler Klienten beinhalten ein explizites oder implizites „Ich kann nicht mehr!“. Auch dieser Klient „konnte“ vor einem halben Jahr „nicht mehr“ – „plötzlich“. Diese Symptomatik, neudeutsch ein „Burnout“, ein Ausgebranntsein, ist keine Mode, sondern Realität. Die Wortwahl – man ist „ausgebrannt“ – ist passend, sowohl als Metapher als auch als Beschreibung der Problemdynamik. Wer sich mit traditioneller chinesischer Medizin befasst, findet die systemisch-energetischen Zusammenhänge des Raubbaus an der eigenen Energie, dem „Qi“, in dieser jahrtausendealten Lehre exakt und minutiös beschrieben. Byung-Chul Han spricht in dem Zusammenhang auch von „seelischen Infarkten“.  Genaugenommen sind es leib-seelische, psycho-somatische Infarkte.

Vorher sei alles gut gewesen (!) und dann habe es ihn zusammengehauen. Seither ist er krankgeschrieben. Er kann von Glück sagen, dass sein Chef und die Firma ihn schützen, dass er das Signal habe, „alle Zeit für seine Gesundung“ zu bekommen.  Aber auch dieses Signal erweist sich Monate später als zeitlich begrenzt – irgendwann soll er dann doch schon wieder „der Alte“ sein.

In den ersten Wochen, als er zu mir kam, war er völlig am Boden und ich überlegte, ob ich ihm eine stationäre Therapie empfehlen sollte. Seine Erschöpfung, seine Unfähigkeit zu irgendeiner Aktivität erschienen durchgängig und ohne Ausnahme. Doch nach und nach kam er – im wahrsten Sinne des Wortes – „zu sich“. Wir arbeiteten an dem mentalen Erbe seines Vaters, dass er unbewusst übernommen hatte: immer für alle da sein (und nicht auf sich selbst achten)! Auch seine soziale Identität, sein soziales Ich waren Thema: er sei immer der Nette gewesen, den man jederzeit anrufen konnte, wenn man mal was brauchte. Er sei ständig unterwegs gewesen, auf Parties, in Freizeitaktivitäten. Nun erkennt er sich und die anderen ihn nicht wieder. Er zieht sich zurück, will mit niemandem telefonieren, geschweige denn jemanden treffen. Die Einsicht, dass er sich übernommen hat, dass er auf sich, seine Rückzugs- und Selbstregulationsbedürfnisse, sein Degagement zu wenig geachtet hat, sickert langsam ein. Sie wird unterstützt durch Teilearbeit, Arbeit mit Glaubenssätzen und durch Selbsthilfeübungen aus dem Jin Shin Jyutsu – einem ursprünglich aus Japan stammenden System zur energetischen Regulierung, welches erstaunlich gut die positive Selbstregulation unterstützt.

Er steigt erst stunden-, dann tageweise wieder in die Arbeit ein. Hat die offizielle Erlaubnis, sein zeitliches Engagement zu begrenzen und an seine Kollegen zu delegieren. Aber auch das geht natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. In einer Sitzung unterhalten wir uns über die Arbeitsbedingungen. Früher, d.h. vor 20 Jahren, da sei man ins Büro gekommen und habe seine Post und die Faxe gelesen. Es habe ein Telefon (mit Schur!) gegeben und es gab bestimmte Zeitfenster, innerhalb derer man anrufen und selbst angerufen werden konnte. Die Zeit für Projekte sei viel großzügiger bemessen gewesen usw. usf. Wir unterhalten uns über den digitalen Wandel und die Globalisierung. Heute müsse er fast rund um die Uhr erreichbar sein, fortwährend werde er zu „Meetings“ eingeladen (die online und sehr früh oder sehr spät stattfinden, damit auch Kollegen aus Indien oder den USA dabeisein können), da könne er zwar absagen, aber dann sei er draußen. Die Misere liegt auf der Hand und sie ist individuell kaum zu lösen. In einer späteren Sitzung äußert er, dass ihm langsam klar werde, dass er sich entscheiden muss, ob er diese Arbeit weitermache oder sich eine andere Stelle suche. Er komme immer wieder an Grenzen, die er nun, im Gegensatz zu früher, gleich wahrnehme. Er spüre sie körperlich (das kommt davon, wenn man körpertherapeutische Elemente verwendet!). Sein Körper melde ihm, dass er eine Pause brauche, dass er etwas für sich tun muss. Oder dass das angeforderte Angebot für einen Großauftrag in der gesetzten Zeit nicht seriös zu erstellen sei. Und er könne nicht mehr wie früher zwei Wochen am Stück 14-16 Stunden am Tag arbeiten, um die Frist einzuhalten. In diesem Fall habe er dem potentiellen Auftraggeber mitgeteilt, dass er ein Angebot einreiche, aber eben jenseits der Frist. Dann akzeptieren die das oder eben nicht. Sein Chef habe zähneknirschend zugestimmt, aber wenn seine Zahlen am Ende des Tages nicht stimmen, dann ist das Spiel aus und er als Mitarbeiter nicht mehr zu halten.

An dieser Stelle des beraterischen Engagements ist natürlich ein Degagement vonnöten, ansonsten gerät man in Teufels Küche. Zwar bin ich immer auf Seiten der organismischen, also leib-seelischen Bedürfnisse, aber ich darf einen Klienten natürlich auch nicht in etwas hineinreiten, was mir auf meinem Beraterstuhl zwar gefällt, aber ihn und seine Familie potentiell in Schwierigkeiten bringt. Es braucht demnach: Degagement, in diesem Fall Neutralität. Ich begleite ihn also in seinem Entwicklungs- und Findungsprozess, auch wenn mir die Situation zunächst als unlösbares Dilemma erscheint (aber auch damit kann man ja bekanntlich arbeiten). Und jetzt, im Niederschreiben, merke ich, dass ich ein großes Vertrauen habe in den positiven Ausgang dieses Prozesses, auch wenn ich noch nicht weiß, wie er ausgehen wird (aber das muss ich ja auch nicht). Irgendwie aber weiß ich: um diesen Klienten brauche ich mir keine Sorgen zu machen, er wird seinen (!) Weg gehen.

Er ist kein Einzelfall. Vielmehr steht er für viele Menschen, die zu mir in die Therapie oder Beratung kommen, egal ob Projektmanager, höhere Führungsebene, Schichtarbeiter, Krankenschwester, Lehrer oder Bedienung in der Gastronomie. Alle leiden aus meiner Sicht unter der zunehmenden Geschwindigkeit und Komplexität der Lebensabläufe. Wenn man auf dem Beraterstuhl sitzt, hat man es vergleichsweise gut. Denn man ist gewissermaßen „aus der Welt“ und kann das immer verrückter werdende Geschehen in der Welt zumindest immer mal wieder aus der Tribünenperspektive betrachten.

Letztlich geht es aber um die strukturellen Bedingungen in einer Welt, die zunehmend von Digitalisierung, Globalisierung, Verlust von Zeit und Ort und von Konsumismus bestimmt ist. Worin besteht die Lösung? — Ich habe keine!

Vielleicht eine kleine. Eine, die immer wieder Reservate der Freiheit, des Zu-sich-Kommens schafft. Sie ist individuell und nicht kollektiv. Sie erfordert das Innehalten, den gedehnten Blick, das bloße Ein- und Ausatmen. Sie ist so etwas wie eine kleine, stille, von außen kaum merkliche Revolution im Inneren. Ihr Motto lautet vielleicht: Dégageons-nous!

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31 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    NACHTRAG
    Seit der Veröffentlichung meines Beitrags sind 3 Monate vergangen. Mir ging es nicht um bloße Zustimmung, dennoch hat mich manche zustimmende Reaktion gefreut. Bei einigen Einsprüchen hätte ich mir gewünscht, daß sie weniger von Affekten als von Argumenten getragen worden wären; die Heftigkeit mancher Gegenrede, das gebe ich zu, ging mir unter die Haut.
    Ein Vierteljahr später stoße ich nun in einem Roman – “Olga” von Bernhard Schlink – auf eine Stelle, die mir wie eine Bestätigung meiner Sichtweise vorkommt; wie meistens sagt ein Romanautor die Dinge oder Wahrheiten eleganter und nebenbei, ohne die Strenge und Ausführlichkeit, die in einer Abhandlung geschieht.
    Olga, die Hauptperson, ist im Kaiserreich aufgewachsen. Sie ist arm und kann deshalb ihren Geliebten, der aus reichen Verhältnissen stammt, nicht heiraten. Die Liebe endet jäh, weil Herbert bei einer unüberlegten Expedition ums Leben kommt. Er wollte immer alles weit und groß, er war in seinem Streben überdimensioniert. Olga dagegen ist alles Große suspekt. Nicht nur die Attitüde Herberts. Auch der Kolonialismus des Kaiserreichs, die Deutschtümelei, die Nazis ohnehin. Denen gerät alles zu groß, das ist Olgas Denken. Nach dem 2. Weltkrieg kommt sie als ältere Frau nach Heidelberg (!) und findet in der Familie des Icherzählers Ferdinand Anschluß. Es kommt die Zeit der Studentenbewegung. Olga findet das alles gut, den Kampf gegen die Ungerechtigkeit, das Demaskieren alter Nazis.
    “Aber”, so der Icherzähler, “dass wir Studenten einen anderen Menschen und eine andere Gesellschaft schaffen und die Dritte Welt befreien und den Krieg der USA in Vietnam beenden wollten, fand sie zuviel. ‘Ihr seid auch nicht besser, sagte sie, ‘statt eure Probleme zu lösen, wollt ihr die Welt retten. Auch euch gerät alles zu groß, merkst du das nicht?'”
    (Bernhard Schlink, Olga, S. 149)

    • Gabby Thiede sagt:

      Das bewusst aufgebaute “Dégageons-nous!” zielte also nicht auf die Affektebene, also dort, wo ein Romanautor seine volle Wirkmacht entfalten kann, verstehe ich nun. Eine schöne Wendung. Der Autor Tellkamp hätte entsprechend auch besser bei seinen Äußerungen im systemischen Rahmen seines “Turm”s bleiben sollen, wie man den aktuellen Schlagzeilen entnehmen kann.

      • Lothar Eder sagt:

        “Sie sind alle so. Sie haben immer moralische Urteile parat, über die Vergangenheit und über die Gegenwart, und obwohl ihr Leben behütet ist und es sie nichts kostet, moralisch zu sein, finden sie sich mutig und plustern sich auf.”
        (Bernhard Schling, Olga, S. 309)

        • Gabby Thiede sagt:

          “Vor diesem Hintergrund wird schlagartig deutlich, was ein Buch, das wir aufschlagen, um einzutauchen in eine erfundenen Welt, und das wir wieder schließen, wenn wir es wünschen, immer war: ein Medium der Freiheit. Bald schon werden wir die Manipulation jeden Textes erleben, den wir elektronisch lesen. Wie alle digitalen Inhalte werden auch die digitalisierten Erzählungen nach der Maßgabe von Stimulanz und Dämpfung korrigiert, unmerklich und stetig.”
          (Thomas Hettche, UNSERE LEEREN HERZEN. Über Literatur, S. 41 f)

  2. Max Liebscht sagt:

    “Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.” Niemöller … https://www.youtube.com/watch?v=Bgd7A9e0IJ4

  3. Gabby Thiede sagt:

    Der Teufel ist also ein pseudonymisiertes Eichhörnchen und es kocht.

    Ja, wir schaffen das.

  4. Tom Levold sagt:

    Über den Umgang mit Pseudonymen

    am Morgen der Veröffentlichung dieses Beitrages von Lothar Eder erschien ein Kommentar, den ich nach flüchtigem Durchlesen freigeschaltet habe. Kommentare von unbekannten AutorInnen werden zunächst automatisch zur Prüfung zurückgehalten, um Spam-Kommentare auszuschließen. Den Kommentar fand ich polemisch, er bezog sich nicht auf die Argumentation von Lothar Eder, die man gut oder schlecht finden kann, ich hatte den Eindruck, dass sich hier einer Luft machen muss. Dann realisierte ich, dass der Autor ein Pseudonym („Theobald Tiger“) benutzte, also für seine Polemik nicht mit seinem Namen einstehen wollte. Aus diesem Grund habe ich erst einmal die Freigabe wieder zurückgezogen.
    Am Abend fand ich dann ein Schreiben an mich vor sowie einen weiteren Kommentar (zum Kommentar von Arist von Schlippe). Darauf – und den darin enthaltenen Vorwurf der Unterdrückung von anderen Meinungen – antwortete ich; worauf sich eine kleine Korrespondenz entwickelte – die ich auch zur Veröffentlichung anbot, unter meinem Namen. Wer das lesen möchte, kann es hier tun. Was es mit diesem Thema auf sich hat, geht ausreichend daraus hervor.

    Tom Levold

    Herausgeber systemagazin

    17.12.2017 – 10:54 h
    “Ihr Kinderlein bleibet daheim – hier wird Euch nicht geholfen!”, ist das Ihre weihnachtliche Botschaft an Hilfesuchende in aller Welt? Und an Helfer in Deutschland gerichtet: “Engagement in der Flüchtlingshilfe kann schädlich für Ihre Gesundheit und unsere Heimat sein!”? Warum gerade ein aufmunterndes “Wir schaffen das!” narzisstisch sein soll, ist mir trotz allerlei Rückgriff auf griechische Mythologie, Benno Ohnesorgs Tod oder “Lügenpresse” schimpfenden Medienwissenschaftlern nicht klar geworden. Und ebenso engagierte wie couragierte Intellektuelle wie Sartre oder Hannah Arendt sollen für diesen m.E. kompletten Quatsch mit (intellektueller?) Soße als Gewährsleute herhalten? Oh. Mein. Gott! Mir scheint, dieser Artikel wäre wohl passender als ebenso verunglücktes wie verquastes Grußwort rechtspopulistischer Apologeten an einen beliebigen AfD-Ortsvereins Klein-Spießerheim zur Adventszeit gerichtet worden. Hier scheint er mir reichlich deplatziert und wirkt auf mich wie eine Verhöhnung all derer, die sich engagieren.

    Entrüstet,
    Theobald Tiger

    17.12.2017 – 17:16 h

    Sehr geehrter Herr Levold,

    heute morgen um 10:53 habe ich einen unten noch einmal beigefügten kritischen Kommentar zu diesem Artikel gepostet. Insbesondere der erste Teil des Artikels hat mich sehr verärgert, das habe ich zum Ausdruck bringen wollen. Ich bin nicht sicher, ob mein Kommentar überhaupt nicht veröffentlicht worden ist oder zunächst doch, dann aber wieder entfernt wurde. Auf jeden Fall ist er nicht (mehr) veröffentlicht. Warum?

    Auch wenn Sie meine Kritik nicht teilen, so sagt doch Ihr Umgang damit in jedem Falle etwas über Sie, möglicherweise sogar Ihre Autoren und vielleicht sogar über Ihre Community aus. Am Ende machen Sie sich mit etwas gemein, nämlich mit der Unterdrückung abweichender Meinungen. Ich bin nicht sicher, ob Sie das wollen. Bislang habe ich Ihr für mich sichtbares öffentliches Wirken anders bewertet. Mich erfüllt es in jedem Fall mit Sorge, wenn jetzt auch die systemische Community auf den rechtspopulistischen Zug aufspringt und unreflektiert solche Zeilen wie die von Herrn Eder veröffentlichten öffentlich lobt.

    Mit freundlichen Grüßen
    Theobald Tiger

    17.12.2017 – 17:47 h

    (Zum Kommentar von Arist von Schlippe)

    Was genau finden Sie “entlastend”? Endlich sagen zu dürfen, dass Flüchtlinge in Deutschland nicht willkommen sind und unsere Heimat gefährden (so interpretiere ich den ersten Teil des vorliegenden Textes)? Oder endlich mal von “ungebremster Massenmigration nach Deutschland” sprechen zu dürfen und endlich Menschen, die in der Flüchtlingshilfe engagiert sind als „Weltmeister im Gutsein“ zu verunglimpfen, wie es der Artikel tut? Ich bin mir der Ambivalenz von Hilfsleistungen und Hilfespendern durchaus bewußt, aber was ist “narzisstisch” an einem “Wir schaffen das!”-Appell in einer Notsituation, wenn in 2015 und 2016 2-2,5 Mio Menschen von weltweit rund 60-70 Mio, also mithin nur ca. 3-4 % aller Flüchtlinge weltweit an die Türen einer der reichsten Wirtschaftsregionen der Welt klopfen, davon die Hälfte in akuter Gefahr vor dem Krieg in Syrien flüchtend? Wieviel haben Sie, Herr Eder, Herr Levold oder andere Autoren Ihrer Website dieses Jahr weniger auf dem Gabentisch, weil vermeintliche “Weltmeister im Gutsein” Menschen in Not geholfen haben?

    Ich hoffe, Ihre heimelige Adventsstimmung gestört zu haben.

    17.12.2017 – 23:40 h

    Lieber Herr (?) Tiger (??),

    in der Tat habe ich Ihren systemagazin-Kommentar heute früh freigeschaltet – und dann wieder gesperrt – als ich gesehen habe, dass Sie Ihre Kommentare anonym bzw. unter einem Pseudonym absetzten.
    Ich weiß nicht, auf welcher Baustelle Sie was genau mit Lothar Eder ausfechten, offensichtlich spielt die AfD dabei eine Rolle – Ihre Polemik scheint mir aus anderen Quellen gespeist als aus seinem Beitrag für den Adventskalender.
    Von der Unterdrückung „anderer“ Meinungen in Ihrem Fall zu reden, ist dabei aber ziemlich dummes Zeug. Erst einmal gibt es wahrscheinlich im systemagazin viel mehr andere Meinungen als Lothar Eder sie hat, zweitens habe ich Ihren Beitrag nicht deshalb nicht freigegeben, weil er eine andere Meinung ausdrückt, noch weil er ziemlich herumpöbelt, ohne sich wirklich auf den Text zu beziehen, sondern ausschließlich deshalb, weil Sie offensichtlich nicht bereit sind, mit offenem Visier zu kämpfen. Ihr Engagement in Ehren, aber dann sollten Sie das auch unter Ihrem Klarnamen tun.
    Mein erster Vorschlag: Sie geben Ihr (ehrlich gesagt: ein bisschen anmaßendes) Pseudonym auf und ich gebe Ihre Kommentare frei.
    Mein zweiter Vorschlag: Sie behalten Ihr Pseudonym und ich veröffentliche Ihre Kommentare und meine Reaktion darauf im Adventskalender.

    Freundliche Grüße an unbekannt
    Tom Levold

    18.12.2017 – 21:17 h

    Lieber Herr Levold,

    zu (m)einem Pseudonym:
    Ich bin männlich und mag Kurt Tucholsky. Dass ich eines seiner Pseudonyme verwende, betrachte ich als eine Art Reverenz ihm gegenüber. Mein Stil und Duktus ist ein eigener und in keiner Weise an Tucholsky orientiert. Warum also finden Sie das “ein bisschen anmaßend”? “Theobald Tiger” ist ausreichend als Pseudonym erkennbar, sein Erfinder ist lange tot, “Peter Müller” (als häufigster deutscher Name) wäre nicht als Pseudonym erkennbar, “Clark Kent” erschiene MIR als anmaßend.
    Ich halte die Möglichkeit und Wahrung von Pseudonymität im Internet für ein ungemein wichtiges Rechtsgut, verankert in diversen Gesetzen, die ich als “netzpolitische” Bürgerrechte betrachte. In meinem konkreten Fall schütze ich damit mich und meine Liebsten. Und warum eigentlich sollte ich Ihrer Aufforderung entsprechen, einen Klarnamen zu verwenden, damit meine Kommentare veröffentlicht werden? Kennen Sie meinen persönlichen Kontext? Warum werten Sie mein entsprechendes Bedürfnis ab? Ich fordere niemanden dazu auf, seinen Klarnamen zu verwenden. Es gibt Communities im Internet, die das für sich “utilisieren”, denn wenn meine echte Person unbekannt ist, fordert das aus meiner Sicht stärker zu inhaltlicher Auseinandersetzung heraus. Im konkreten Fall habe ich mich auch noch nie mit der Person “Lothar Eder” auseinandergesetzt, sondern mit seinen veröffentlichten Inhalten. Leider gelingt es aber offensichtlich selbst vielen systemisch vorgebildeten, Argumente ad rem und Argumente ad personam auseinanderzuhalten.
    Dass Sie martialisch von “mit offenem Visier kämpfen” sprechen, ist für mich einer von vielen Hinweisen, dass Sie gerade vor einem inhaltlichen Austausch zurückschrecken. Dass Sie dann auch noch die selbe Metapher verwenden, wie das auch schon Herr Eder in der Kehrwoche getan hat, lässt auf mich Ihre Ahnungslosigkeit (“Ich weiß nicht, auf welcher Baustelle…”) gespielt wirken. Als Forenbetreiber in einem öffentlichen Raum (Internet) sollten Sie sich im übrigen auch mit der rechtlichen Seite von Pseudonymität und Ihrer Verpflichtung, diese in Ihrem Forum zu gewähren, beschäftigen. 
    Zum “dummen Zeug” Ihres bisherigen Unterdrückens anderer Meinungen:
    Sie haben meine Beiträge (es waren zwei) zensiert. So nennt man das, wenn Sie die Veröffentlichung (m)eines Beitrages kontrollieren, indem sie dessen Veröffentlichung zurückrufen. Ihre Begründung halte ich für wenig glaubhaft. Hätten Sie ihn auch gesperrt, wenn ich mich voll des Lobes geäußert hätte? Haben Sie bislang in all den Jahren nur Kommentare unter Klarnamen veröffentlichen lassen? Und wenn ich als “Peter Müller” kommentiert hätte, welchen Unterschied hätte das eigentlich inhaltlich gemacht? Nein, Sie haben bewußt (m)eine abweichende Meinungsäußerung, die Sie als “Pöbelei” abwerten (Ihr gutes Recht, allerdings auch etwas inhaltsleer, wenn ich mir die leise Replik auf Ihre Kritik erlauben darf), unterdrückt. Ins Bild passt dabei auch, dass Sie das stillschweigend (!) getan haben und mich noch nicht einmal darüber informiert haben! Informiert haben Sie mich erst viel später, nachdem ich mich bei Ihnen beschwert habe und in einem Ihnen bekannten Forum den Zensurverdacht geäußert habe. Offenkundig plagt Sie aber wohl eine Art schlechten Gewissens (oder Sie haben reflektiert und gelernt, ohne es vor mir offenbaren zu wollen), denn anders kann ich mir Ihren zweiten Vorschlag nicht erklären, dass Sie doch meinen Kommentar veröffentlichen würden, und zwar ergänzt um Ihre Reaktion. Denn was wäre eigentlich der Unterschied gewesen, wenn Sie einfach meinen Kommentar freigeschaltet gelassen hätten und ihn sofort öffentlich kommentiert hätten (mit all Ihren Einwänden, das Sie meinen Beitrag für Pöbelei halten etc.pp.)? Dann könn(t)en ja auch weitere Leser und Autoren Stellung beziehen, sei es für oder gegen meine Bewertung oder sei es für oder gegen Pseudonymität. Selbstverständlich bin ich für eine entsprechende Veröffentlichung, möchte aber durchaus meinem Misstrauen Ausdruck verleihen, ob Sie ALLES wirklich unverfälscht wiedergeben werden. Ich gehe im Moment eher davon aus, dass das nicht passieren wird.

    Freundliche Grüße,
    TT  

    18.12.2017 – 22:41 h

    Lieber Herr ????,

    ein bisschen anmaßend finde ich Ihr Pseudonym, wenn Sie das als Referenz an Kurt Tucholsky betrachten wollen, OHNE sich in Stil und Duktus an ihm orientieren zu wollen. Zumindest sein Humor, seine feinsinnige Ironie – neben aller klaren Positionierung – wären doch eine gute Orientierung? Und das der Urheber des Pseudonyms schon „lange tot“ ist, befreit doch auch nicht wirklich von der Notwendigkeit, dessen Aneignung begründen zu müssen? Aber da denken wir sicherlich unterschiedlich.
    Ihre Vorstellung von Pseudonymen als Rechtsgut halte ich für eine akzeptable Idee in Hinblick auf die Kommunikation in Chatrooms, in denen man mal etwas loswerden oder ausprobieren möchte, ohne gleich darauf öffentlich festgelegt zu werden. Dass Peudonymität bzgl. Meinungsäußerungen in „diversen Gesetzen“ als netzpolitisches Bürgerrecht verankert sei, ist mir neu – da bin ich auf Nachhilfe angewiesen. Dass ich als „Forenbetreiber“ (was ich nicht bin) „verpflichtet“ sei, Pseudonymität zu gewähren, ist mir ebenfalls nicht bekannt.
    Im systemagazin gibt es bislang jedenfalls keine Pseudonyme – und wird es auch zukünftig nicht geben. Jede AutorIn macht sich hier mit ihren Vorstellungen sichtbar – und angreifbar, mich eingeschlossen. Lothar Eder, den Sie angreifen, ist eben kein Pseudonym, sondern eine konkrete Person. Dieser Person (und nicht ihrer Meinung), die sich im systemagazin positioniert, gilt mein Schutz – sie ist eben kein Pseudonym. Und wenn Sie Ihre Person durch Pseudonymisierung schützen wollen, was ich akzeptiere, dann gilt Schutzwürdigkeit von Herrn Eder, der diese Pseudonymisierung nicht in Anspruch nimmt, umso mehr (ganz unabhängig davon, ob ich seine Meinung teile oder nicht).
    Welche Metaphern Lothar Eder in der Kehrwoche verwendet, kann ich leider nicht beurteilen, da ich die Kehrwoche – bei aller Verbundenheit mit Fritz Simon – nur selten lese; nicht wegen seiner interessanten Einwürfe, sondern eher wegen der Ermüdungserscheinungen, die mich befallen, wenn ich im Diskussionsverlauf immer wieder auf (u.a.) pseudonymisierte repetitive Äußerungen stoße, die mir den Eindruck vermitteln, dass sich da Leute befehden, die ich weder kenne noch einordnen kann. Das langweilt mich.
    Dass meine „Ahnungslosigkeit“ auf Sie gespielt wird, nehme ich mal als Unterstellung Ihrerseits, dass ich auf allen systemischen Foren gleichermaßen aufmerksam unterwegs sei – sorry, dass ich Sie da enttäuschen muss.
    Und nun zum „dummen Zeug“: Natürlich kontrolliere ich die Beiträge im systemagazin. Was glauben Sie, was an Müll sonst dort landen würde (damit meine ich nicht Ihre Polemik, sondern jede Menge Spam). Und in der Tat behalte ich mir vor, ob ein Beitrag genehmigt wird oder nicht – z.B. unter dem Aspekt, ob eine Attacke o.k. ist oder nicht. Wer soll das denn entscheiden, wenn nicht ich? Eine inhaltliche Attacke ist für mich immer o.k., weil ich selber gerne austeile – und dann auch aushalten muss, einzustecken. Ausgeteilt habe ich aber noch nie unter Pseudonym – Freunde habe ich mir damit nicht unbedingt gemacht. Aber ich verantworte auch meine Kritiken. Deshalb sind im systemagazin noch nie Beiträge ohne Klarnamen erschienen. Und wenn Sie Peter Müller als Autor ausgegeben hätten und in Ihrer email-Adresse wäre theobald tiger aufgetaucht, hätte ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt.
    Dass ich mich erst bei Ihnen gestern spät abends gemeldet hatte, lag daran, dass mein Tag nach der Sperrung Ihres Beitrags meiner Familie gewidmet war und ich erst in der Nacht Ihre zweite Nachricht lesen konnte (ein schlechtes Gewissen konnte ich aber auch danach noch nicht entwickeln :-).
    Mein Angebot steht also nach wie vor: Ich veröffentliche Ihre Kommentare und unseren Briefwechsel im systemagazin in voller Länge (mittlerweile vielleicht nicht mehr in der Kommentarspalte, sondern als eigenen Beitrag), da wäre auch Ihr Pseudonym gewahrt – allerdings würde ich auch zukünftig keine pseudonymisierten Beiträge oder Kommentare im systemagazin veröffentlichen – denn was ist eine Meinung ohne einen Autoren, den man dafür in die Verantwortung nehmen kann).

    Beste Grüße
    Tom Levold

    19.12.2017 – 1:16 h

    Lieber Herr Levold,

    in Bezug auf Tucholsky sprach ich bewußt von “Reverenz” und warum Sie nach meiner Erläuterung immer noch von “Anmaßung” sprechen, ist mir durch Ihre Ausführungen auch nicht deutlicher geworden. Ich hake das aber mal ab und diagnostiziere eine spezifische Antipathie, sowas soll’s geben.

    Dass Sie die Kehrwoche nicht regelmäßig verfolgen, glaube ich Ihnen, dass Ihre Ahnungslosigkeit nicht gespielt war, glaube ich Ihnen weiterhin nicht, dafür ähneln sich Verhaltensmuster und Sprachmuster m.E. zu sehr und auch schnelles Googeln ist zu verlockend. Familie als Begründung für die Reihenfolge: erst zensieren, dann Familie, dann Beschwerde lesen, dann antworten ist natürlich schwer zu schlagen. Dass Sie da jetzt kein schlechtes Gewissen haben, ehrt Sie (nicht). Was wäre eigentlich ohne meine Beschwerde passiert? Nein, ich bleibe dabei: Sie haben zunächst bewußt zensiert, weil Ihnen meine Inhalte nicht gepasst haben und haben sich “unter Druck” eines besseren besonnen.

    Welche Rolle Sie sich auch immer im Rahmen des http://www.systemagazin.com zuschreiben (wenn schon nicht “Forenbetreiber”), im Impressum werden Sie nunmal als Herausgeber erwähnt, im Sinne aktueller Rechtsprechung gelten Sie somit als Diensteanbieter, für den u.a. § 13 Abs. 6 des Telemediengesetztes gilt: “Der Diensteanbieter hat die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Nutzer ist über diese Möglichkeit zu informieren.“ Sie können das auch nachlesen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudonymit%C3%A4t_im_Internet , möglicherweise sind allerdings auch diverse Diskussionen zu Klarnamenszwang o.ä. in den letzten Jahren an Ihnen vorbeigegangen (nicht das werfe ich Ihnen vor, sondern Ihre offenkundig fehlende Reflexion darüber, übrigens etwas, das MICH schnell langweilt). Hierzu gibt es viele Bürgerrechtsquellen im Internet, mir gefällt eine prominent gewordene wie z.B. https://netzpolitik.org/2016/gute-gruende-fuer-pseudonymitaet-und-gegen-eine-klarnamenpflicht/ . Ihre Vorbehalte und Ihre (stolz zur Schau getragene?) Unkenntnis in Bezug auf die Verwendung von Pseudonymen – ich spüre da fast eine Art paternalistisches Lächerlichmachen – halte ich angesichts der politischen Entwicklungen und Enthüllungen der letzten Jahre z.B. in den USA und über die USA für beinahe naiv.   

    Wenn ich Ihre Argumentation zu Ende denke und richtig verstehe, gerieren Sie sich aus meiner Sicht als Beschützer Ihrer Autoren vor der gesamten Öffentlichkeit, obwohl Sie und Ihre Autoren zur gesamten Öffentlichkeit sprechen (schreiben). Ausserdem machen Sie sich damit zum Bestimmer über “richtig” und “falsch”, mithin zum Zensor. Was genau befürchten Sie für Ihre Autoren denn eigentlich von mir oder von irgendeiner anonymen Öffentlichkeit? Beleidigungen im strafrechtlichen Sinne können Sie doch löschen, werden Sie – wenn ich Ihre Andeutungen richtig verstehe – doch auch schon jetzt tun. Ihre Argumentation führt  – zu Ende gedacht – nach meiner festen Überzeugung zu Totalitarismus und Willkür: veröffentlicht wird nur das, was dem jeweiligen “Herrscher” (in diesem Falle: Ihnen, dem Zensor) gefällt. China hat einen Klarnamenzwang, alle Diktaturen dieser Welt (und nicht mehr nur die) versuchen nicht ohne Grund, das Internet – und damit den öffentlichen Raum – stärker zu kontrollieren. Einen Diskurs selbst über diesen Klarnamenszwang in Ihrem Herrschaftsbereich, Ihrem Forum, lassen Sie nicht zu, weil Sie die Regeln des Diskurses komplett bestimmen wollen. Das halte ich für illegitim und darüberhinaus auch offensichtlich unrechtmäßig, siehe oben.

    Anders als Sie das offensichtlich wahrnehmen, gilt mein Kommentar – und hier wiederhole ich mich – nicht der Person Lothar Eder, sondern den m.E. unsäglichen Inhalten (!) im ersten Teil seines Beitrages. Aus meiner Sicht handelt es sich um kaum verbrämten Rechtspopulismus. Wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie dies ja ebenfalls öffentlich äußern, ebenso Herr Eder etc. Wenn Sie meine Kritik als zu hart, polemisch, pöblerisch etc. empfinden, können Sie das doch ebenfalls äußern. Und – vielleicht haben Sie einen Tipp – wie soll ich denn einen Beitrag einer Person angreifen, ohne dass die Person oder Sie (der Zensor) oder sonstwer sich angegriffen fühlen? Die einzige Empfehlung, die ich habe, ist: versuchen Sie, damit klar zu kommen, es wird nicht das letzte Mal im Leben gewesen sein, dass Beiträge von Ihnen angegriffen werden. Alles andere ist doch nur ein Werfen mit Wattebäuschen.

    Zusammengefasst: es gibt sicher noch mehr als einen Unterschied zwischen Ihnen und mir. Ich werd’s überleben, Sie bestimmt auch. Veröffentlichen Sie endlich (!) den Schriftverkehr in der von Ihnen gewählten Form (bitte aber vollumfänglich). Und bei Gelegenheit erläutern Sie mir vielleicht noch – wie schon ursprünglich angefragt – worin denn dann der Unterschied bestanden hätte, wenn Sie meine ursprüngliche Veröffentlichung belassen hätten und selber kommentiert hätten (will sagen: das hätten wir alle schneller und einfacher haben können).

    Beste Grüße,
    TT

    20.12.2017 – 22:49 h

    Lieber Herr Unbekannt,

    lassen Sie mich mit diesen Bemerkungen unsere Diskussion abschließen. Was Sie mir unterstellen oder bei mir diagnostizieren wollen, überlasse ich natürlich ganz Ihnen.
    Im Kern geht es hier ja auch nur um die Frage der Pseudonymität und der von Ihnen ins Spiel gebrachten Zensur, weil ich Ihre Kommentare nicht freigeschaltet habe.
    Die von Ihnen angeführten Hinweise auf die Schutzfunktion von Pseudonymen vor politischer Verfolgung sind absolut plausibel und angebracht. Dass Sie mich zum Herrscher ausrufen und in eine Reihe mit China und den Diktaturen dieser Welt stellen, halte ich allerdings für überdimensioniert. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, das wir in Deutschland gottlob noch haben, ist übrigens ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in die persönliche Sphäre der Bürger – es ist kein Recht auf freie Wahl der Medien, in denen man seine Meinung veröffentlichen möchte. Die staatliche Unterdrückung von Meinungen ist Zensur, eine publizistische Entscheidung über die Veröffentlichung von Texten, Leserbriefen oder Kommentaren ist es nicht. Als Herausgeber behalte ich mir in der Tat das Recht vor, Texte zuzulassen oder abzulehnen.
    Das Telemediengesetz regelt übrigens die Nutzung personenbezogener Daten zur Bereitstellung von Telemedien für Nutzer *durch die Betreiber* von Medien (also etwa bei kommerziellen sozialen Netzwerken). Vor diesen sollten Nutzer unbedingt geschützt werden. Ich möchte auch wissen, was mit meinen personenbezogenen Daten passiert, die ich dauernd irgendwo eingeben muss.
    Ich erhebe aber gar keine personenbezogenen Daten bei den Nutzern des systemagazin. Das systemagazin habe ich entwickelt, weil ich ein Internet-Journal schaffen wollte, das ich selbst gerne lesen wollte – und das es in dieser Form nicht gab.
    Dazu gehört, dass es offen für jeden Leser und jede Leserin zugänglich ist.
    Sie können jederzeit frei und kostenlos und ganz anonym das systemagazin lesen. Zur Nutzung des systemagazins gehört allerdings das Recht auf die Veröffentlichung von Kommentaren genauso wenig wie zur Nutzung der Süddeutschen (oder einer anderen) Zeitung das Recht auf Veröffentlichung von Beiträgen oder Leserbriefen gehört.
    Wenn Sie das aber als Herrschaft empfinden, die geradewegs in Totalitarismus und Willkür führt, so werde ich damit leben müssen. Pseudonyme Äußerungen werde ich auch in Zukunft nicht im systemagazin haben wollen.
    Wie versprochen, veröffentliche ich dennoch unsere Korrespondenz im vollständigen Wortlaut. Weiter werde ich darauf aber nicht eingehen, weil ich mich nicht mit Menschen auseinandersetzen will, die sich mir gegenüber hinter einem Pseudonym verstecken.
    Beste Grüße und noch einen schönen Advent

    Tom Levold

  5. Dr Sylvia Taraba sagt:

    Lieber Lothar,

    Danke! Ich habe Deine umsichtigen, ausholenden, so einsichtigen psycho-logischen (!) Ausführungen im Zusammenhang Deiner meta-politischen Analyse bestens verstanden und aus Deiner Kommunikation wiedermal erinnert, wie wichtig Geduld ist.

    Es geht um Kommunikation. Du kommunizierst inhaltlich brillant, einsichtig und einfühlend. Auch verstehe ich Dein „Vertrauen in den Prozess“. Jeder tut, was aus seiner Sicht zu tun ist. Jeder tut, was er kontingenzlos (will hier nicht das Wort „alternativlos“ verwenden) tun muss. (Auch Merkel)

    Um zu (s)einem () Standpunkt zu kommen sucht das Individuum anschlussfähige Kommunikation. Warum? Um den notwendigen Prozess für sich selbst frei zu verantworten. Freiheit ist nach Hegel die Einsicht in die Notwendigkeit. Letztere wiederum ist – je individuell -feststellbar.

    Als Dein berufliches Degagement verstehe ich den persönlichen Abstand der nötig ist, in der Beratung von individueller „Parteinahme“ und „Weltanschauung“ selbstredend abzusehen, Raum zu geben, ohne Kommunikation aufzugeben, und ja, um Kommunikation zu erlauben.

    Auch @FBS verstehe ich. Er kann nicht anders, als das zu tun, was er offenbar tun muss, nämlich seinem individuellen Ärger über gegnerische Standpunkte ironisch Ausdruck zu verleihen und seine gegenteilige Weltanschauung zu kommunizieren. Soviel aus der Tribünenperspektive der Tribünenperspektive.

    Aussichtsreich empfinde ich Deine Statements der beiden letzten Absätze
    Einerseits die geschilderten Auswirkungen der derzeit gegebenen „strukturellen Bedingungen“ einer durchkapitalisierten, globalisierten Welt, die auf eine/eine universalistische „One-World-Order“ abzielt, in der Kapital und Linksgrünliberale die beiden Seiten derselben Medaille sind.
    Ein Problem für das Du zugegeben keine „Lösung“ hast. Ich auch nicht. Andererseits folgerichtig vielleicht doch eine kleine…
    Und der stimme er ich vollumfänglich zu.

    Doch ist nicht das Problem selbst schon die Lösung?
    Wenn eine demokratische Gesellschaft nur mehr „einer Meinung“ sein darf ist das ein Problem. Es bildet sich ein kommunikativer Untergrund, der ans Licht will. Das Problem ruft sukzessive Gegenstimmen, Kommunikationen und letztendlich wieder einen öffentlichen Diskurs auf den Plan. Es kippt auf Grund seiner ideologischen Überdehnung und Unmäßigkeit und geht an sich selbst zugrunde.

    Ich würde daher jetzt gleich wieder einen kleinen Schritt über das Degagement hinausgehen: Das Individuelle und das Kollektive lassen sich nur schwer trennen. Wenn wir auch eine (!selbst)beobachtende Metaebene einnehmen können, bleibt es uns doch niemals erspart, als Individuum im Kollektiv eine hohe Wachsamkeit in der Beobachtung zu üben. D.h. Hinschauen, Kommunikation suchen, Information einholen und unserer – je individuellen – weltanschaulichen Einsicht darüber klar Ausdruck zu verleihen, ihr Stimme geben, Gesicht zeigen, Alternativen entwickeln, Partei zu ergreifen und – je – das zu tun, was zu tun ist.
    Es kommt dann, wie es kommt.

    Auch in diesen Prozess des allgemeinen Erwachens aus der Gehirnwäsche mobiler universeller Beliebigkeit, sowie des bewussten, verantworteten Engagements habe ich volles Vertrauen!
    (Es kann dies durchaus immer auch ein Tun durch bewusstes Nicht-Tun sein. Es reicht die innere Haltung!)
    Nochmals Danke Lothar für Deinen klaren Text! Du warst in manch dunkler kehrwöchentlicher, Verzweiflung immer ein helles Licht!

    • FBSimon sagt:

      Liebe Frau Taraba,
      da irren Sie sich. Ich ärgere mich keineswegs über Lothar Eders Kommentar. Mit der (2.) Hälfte bin ich sogar ganz einverstanden.
      Aber komisch finde ich sein Engagement für Degagement (vor allem den dabei gezeigten Eifer) trotzdem.
      Beste Grüsse, FBSimon

      • Dr Sylvia Taraba sagt:

        Lieber Herr Simon,
        ich irre mich gern, wenn Sie mir dann schreiben und meinen Irrtum richtig stellen.
        Frohe Weihnachten Ihnen
        Beste Grüße
        Sylvia Taraba

    • Lothar Eder sagt:

      Liebe Sylvia,
      ich danke Dir sehr herzlich für Deinen differenzierten Kommentar!
      Du deutest darin einige systemische Perspektiven an, die ich sehr anregend finde. Wie mir aus der “Kehrwoche” gut in Erinnerung, gelingt Dir das immer wieder auf eine erstaunliche Art und Weise, die ich selber so nicht draufhabe. Es wäre z.B. sehr sinnvoll, so wie Du es angeregt hast, den Metadiskurs über die genannten und offensichtlich sehr kontroversen Themen, unter dem Aspekt der Kontingenz zu betrachten.
      Zumal es ja – so sehe ich es zumindest – vorrangig um die eigenen, impliziten und nichthinterfragten Haltungen geht, die hier ausgetragen, ja z.T. sich wechselseitig um die Ohren gehauen werden.
      Allerdings bin ich nicht so optimistisch wie Du. Meine Erfahrung mit und meine Wahrnehmung der Ereignisse seit 2015 stimmen mich pessimistisch, Nicht zuletzt deshalb, weil in meiner Wahrnehmung die gesellschaftspolitische Debatte von verbissener Ideologie und teilweiser intellektueller Unredlichkeit und mangelndem Realitätsprinzip geprägt ist. Diese führt(e) zu einer massiven Spaltung des Landes (und Europas), die ich als außerordentlich gefährlich erachte.
      Letztlich braucht m.M. mehr als den systemischen Blick zur (Auf)Lösung. Es bräuchte die Möglichkeit, das Faktische und das Mögliche realistisch zu benennen und zu befragen, und damit die aktuelle Diskursverengung aufzuheben.
      Ich denke, das müßte mit einer realistischen Sicht auf das Entstehen und den Fall von Zivilisationen einhergehen, die diesseits von romantischer und “one world”-Verklärung angesiedelt ist. Zu nennen wären Heiner Mühlmanns “Die Natur der Kulturen” oder der belgische Althistoriker David Engels.
      Die ganze Debatte um die “Flüchtlinge” (ein Begriff, der generalisiert und völlig undifferenziert verwendet wird) hat in meiner Beobachtung eine Dauerreferenz auf Hitler. Jedes Argument dafür und dagegen, jede Handlung, jedes Für und Wider fällt sofort in die “Nazispalte” und kommt nicht mehr heraus. Der Grund ist mE die Weigerung, zumindest jetzt, nach über 70 Jahren, eine Historisierung der damaligen Zeit vorzunehmen – ein Vorschlag von Ernst Nolte aus dem Jahr 1986. Der “Historikerstreit” mit Habermas ging zugunsten von Habermas aus. Die Folgen werden heute mehr als deutlich.
      So, genug. Die Debatte ist lange nicht zu Ende, aber nicht alles muß jetzt angeführt werden.
      Frohe Weihnachten Dir und Deiner Familie! Lothar

      • FBSimon sagt:

        Die zentrale Frage ist doch, wer entscheidet, was das “Realitätsprinzip” an Handlungskonsequenzen erfordert, wenn man sich nicht mal darüber einigen kann, wie die Realität angemessen zu beschreiben ist, von ihrer Erklärung und Bewertung mal ganz abgesehen…

        • Dr Sylvia Taraba sagt:

          “Ich” entscheide, welche Handlungskonsequenzen erforderlich sind, wie die Realität angemessen zu beschreiben ist und wie sie zu bewerten ist…..

          • FBSimon sagt:

            Das dürfen Sie ja gerne tun, liebe Frau Taraba. Ein Problem entsteht m.E. erst dann, wenn Sie das auch für andere Leute tun wollen…

        • Dr Sylvia Taraba sagt:

          Nein ich will’s nicht für andere Leute tun lieber Herr Simon. Ich will nur nicht, dass es andere Leute für mich tun: entscheiden, welche Handlungskonsequenzen erforderlich sind, wie die Realität angemessen zu beschreiben ist und wie sie zu bewerten ist…..ich will’s dann aber anderen mitteilen dürfen, wie ich mich entschieden habe … und warum ….
          Ein gutes Neues Jahr!

      • Matthias Ohler sagt:

        Ich habe ein paar Fragen zu dieser (wahrlich historischen) Passage “zumindest jetzt, nach über 70 Jahren, eine Historisierung der damaligen Zeit vorzunehmen”. Sie beklagen die Weigerung, befürworten also demnach das, was sie Historisierung zu nennen vorschlagen?
        Welcher damaligen Zeit?
        Was war diese bisher, wenn nicht historisiert?
        Wie unterscheiden Sie historisierte von nicht historisierten Zeiten?
        Wie bezeichnen Sie, was (u.a.) Historiker über damalige Zeiten geforscht, zusammengetragen etc. haben, wenn es nicht historisieren ist?
        Können Romane historisieren?
        Ändert, was Sie Historisierung zu nennen vorschlagen, etwas an Möglichkeiten von Beschreibung, Erklärung und Bewertung?
        Was, denken Sie, hat Arist von Schlippe und andere entlastet? Und wovon?
        … ?
        Beste Grüße
        Matthias Ohler

        • Lothar Eder sagt:

          Meine Bemerkung bezog sich wie bereits gesagt auf den damaligen “Historikerstreit”, der mit dem Aufsatz “Vergangenheit, die nicht vergehen will” von Ernst Nolte in der FAZ vom 6. Juni 1986 begann. Die damalige heftige Debatte setzt sich nicht nur in Historikerkreisen bis heute fort; sie bestimmt mE wesentlich das heutige deutsche Selbstverständnis und ist somit – als These formuliert – handlungsleitend.
          Der Kern der These findet sich auch in dem Diktum “Die Hauptstadt der Bewegung war nicht München, sondern Versailles” von Theodor Heuss (1. BP nach dem Krieg) wieder.
          mit freundlichen Grüßen, Lothar Eder

          • Matthias Ohler sagt:

            Bisschen dünn

          • Lothar Eder sagt:

            Nein, gar nicht dünn, Herr Ohler. Dünn ist es für Sie nur, weil Sie mit der Debatte bzw. dem Historikerstreit allem Anschein nach nicht vertraut sind. Die Dünnheit liegt demnach ganz bei Ihnen.

          • Lothar Eder sagt:

            Jetzt will ich doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, zur Frage der „Historisierung“ etwas zu sagen. Ich gebe gerne zu, dass die Tonart mancher Beiträge aus der Heidelberger Vangerowstraße (zu deren erweiterten Kreis ich Herrn Tiger rechne) mich nicht unberührt lässt, was sich wiederum auf meine Reaktionen auswirkt.
            Die Frage nach der (a)historischen Betrachtung des 3. Reiches scheint mir gerade aus einer systemischen Perspektive bedeutsam. Denn wenn man davon ausgeht, dass das damalige deutsche Volk nicht einfach das Böse in sich trug (die Erfindung des hässlichen Deutschen ist eine Kreation des Freudneffen Bernays aus dem Jahr 1916, um die an sich deutschfreundliche amerikanische Bevölkerung auf den Krieg gegen Deutschland umzustimmen), wäre es schon aus Gründen der intellektuellen Lauterkeit bedeutsam, nach den Kontextbedingungen des Aufstiegs der Nationalsozialisten zu fragen. Die besonderen Bedingungen der Nachkriegsregelungen in den Versailler Verträgen scheinen hier zu den wesentlichen Faktoren zu gehören. Auch die Frage, ob denn zwischen 1919 und 1939 wirklich Frieden herrschte. Aber auch militärstrategische Aspekte, z.B. die Doktrin der USA, dass es niemals zu einem Bündnis Berlin-Moskau kommen dürfe. All dies wäre „historisierend“ bzw. eine Beachtung der kontextuellen (i.e. vorausgehenden und begleitenden) Faktoren.

            Sylvia (Taraba) äußerte, Hitler sei für die Frage der aktuellen Massenmigration obsolet. Ich denke darüber anders. Denn das Zulassen der massenweisen Zuwanderung ohne jede Kontrolle war und ist politisch-medial begleitet von steten Verweisen auf die historische Schuld der Deutschen. Wäre diese realistisch und zeitgeschichtlich eingeordnet (z.B. entlang der durchaus systemischen Frage, wodurch und wann denn diese Schuld getilgt sein kann, denn alles andere wäre ja eine fast transzendente, auf immer und ewig bestehende, weil niemals abzutragende Schuld), fiele ein wesentliches psycho-politisches Element der Begründung der Masseneinwanderung weg.
            Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Trennlinie in Europa zwischen migrationsbefürwortenden und –ablehnenden Staaten exakt an der Scheidelinie liegt, die auf der Jaltakonferenz von den Alliierten festgelegt wurde. Sie verläuft entsprechend zwischen dem deutschen Westen und der ehemaligen DDR. Warum ist das so?

            Weshalb Arist (v. Schlippe) sich durch meinen Beitrag entlastet fühlt, darüber könnte ich nur spekulieren, und das will ich hier nicht tun. Es würde mich jedenfalls sehr interessieren. Zudem darf ich sagen, dass mich einige überaus positive Reaktionen außerhalb dieser Kommentarspalte erreicht haben. Darüber habe ich mich gefreut. Allerdings geht es mir nicht um bloße Zustimmung, da mir durchaus bewußt ist, wie spannungsgeladen dieses Thema ist und welche heftigen Emotionen es auslösen kann. Es wäre überaus wünschenswert, über bestehende Gräben hinweg zu anschlußfähigen Dialogen zu gelangen. Zudem erhebe ich nicht den Anspruch, in allem richtig zu liegen. Es irrt der Mensch, solang er strebt!

            Dennoch oder gerade deswegen wünsche ich allen, die hier mitschreiben und –lesen eine gesegnete Weihnacht!

      • Dr Sylvia Taraba sagt:

        Lieber Lothar,

        Die Dauerreferenz auf Hitler ist obsolet. da es sich bei dem Problem der Migration in den allerwenigsten Fällen darum handelt Asyl zu geben, sondern um eine Mediengenerierte Falschinformation bei der verdeckt wird wovon heute Antisemitismus, Totalitarismus und Unterwerfung ausgeht.

        2015 wurden willentlich die Grenzen geöffnet, und werden bis heute offen gehalten, um der von der UN 2001 geplanten und vorgeschlagenen “Replacement Migration” statt zugeben. s.d.

        Wir sind als Europäer nicht dazu verpflichtet uns selbst aufzugeben, indem wir uns zu Minderheiten machen lassen! Wir benötigen keine “Austausch Migration”. Wir können uns effektiv dagegen verwehren, natürlich nur, wenn wir das wollen! Den Zug der Lemminge kann man vielleicht tatsächlich nicht aufhalten. Mein Optimismus entspringt jedoch meiner Liebe zum Schicksal: wir sind jetzt endlich herausgefordert, uns damit auseinanderzusetzen, was uns das Eigene unserer so vielfältigen europäischen Kulturen wert ist und welche “Alternativen” uns das Leben in der Globalisierung derzeit anbietet. Wir können nämlich über unseren Schatten springen, uns informieren, uns bilden und persönlich entscheiden, ob wir diese “Alternative” akzeptieren wollen. Es kommt dann wie es kommt. Aber wir sind jedenfalls unserer persönlichen Verantwortung gefolgt. Je mehr desto effektiver.

        Die Hingabe an den Widerstand kann durchaus bewirken, dass es anders kommt als gedacht. Insofern bin ich noch immer optimistisch, weil das meiner Lebenshaltung entspricht. Auch beobachte ich einerseits Nietzsches ‘Letzte Menschen’, die blinzeln und ihre globalisierte Wohlfühl-Komfortzone nicht mehr verlassen, in der Welt herumfliegen und Merkel wählen. Andererseits jedoch umgekehrt Menschen, die sich tatsächlich die Augen reiben, die Fakten, die sie plötzlich sehen können, auf sich wirken lassen und Immunkraft und Widerstand entwickeln und leisten. Es ist noch nicht ausgemacht wie dieser Konflikt hier und anderswo in der Welt ausgeht. Linksliberalismus und Kapital gehen da Hand in Hand, bzw. sind wie gesagt die zwei Seiten derselben Medaille. Aber ich denke ersterer geht an sich selbst zu Grunde und das Kapital kann sich durchaus noch – in letzter Sekunde sozusagen – “gegen ich selbst wenden”(Sloterdijk)

        Der bestehende jedoch verschwiegene Konflikt ist vom unbedingten Willen zum Widerstand aus zu betrachten. Wir haben hier ja wieder dasselbe alte Thema “links”/”rechts” Grob unterscheidbar als universalistischer, globalistischer Utopismus der Beliebigkeit vs. verwurzeltem d.h.genuinem, heimatverbundenem Realismus des Funktionierens von Gesellschaft. Hier scheiden sich halt die Geister. Doch wer sich die vorgenannte Utopie zu Ende denkt, d.h. darüber nachdenkt, wie demnach die Welt aussehen soll, den Totalitarismus in ihr jetzt schon erkennt und kommuniziert, kommt zum Schluss, der einstmals gefolgten Utopie abzuschwören: Linkstum hat immer im Totalitarismus geendet.

        Habe vor einiger Zeit ein rechtes Gegenbuch zu “Mit Rechten reden” gelesen. Es hat den liebenswürdigen Titel “Mit Linken leben” – Ich kann Letzteres nur empfehlen, weil es sehr erheiternd ist. Es gibt in dem aufblühenden Verlag noch andere Bücher darüber, zB “Warum ich kein Linker mehr bin” Auch sehr erhellend! (Wobei man sein Linksfühlen nicht ablegen muss, sondern nur erkennen, das der linke Utopismus stets scheitert(e), weil er nicht dem Menschsein entspricht.

        Frohe Weihnachten!!!
        Sylvia

        • Gabby Thiede sagt:

          Tja, den in dem Ausgangsbeitrag herbei zitierten Teufel werden wir wohl nicht so leicht wieder los.

          Mittlerweile sind wir also angelangt bei: “Wir benötigen keine „Austausch Migration“. Wir können uns effektiv dagegen verwehren, natürlich nur, wenn wir das wollen! Den Zug der Lemminge kann man vielleicht tatsächlich nicht aufhalten.”

          Die Fake-News Verschwörung unter Zuhilfenahme von Tierpsydonymen greift bedrohlich um sich! Flink den Aluhut auf, damit die feindlichen Gegenmächte auf den Tribühnenplätzen nicht nur keinen Zugriff auf unseren Blinden Fleck haben, sondern wir all unsere Gedanken wieder nur für uns behalten können!

          Wenn wir jetzt noch die wahre Bedeutung der Weihnachtsgeschichte vor Ablauf der Deadline decodiert bekommen, haben wir das segensreiche Wirken der eigenen Definitionsmacht auch wieder vollständig auf unserer Seite!

          *hüstel*

  6. FBSimon sagt:

    Ziemlich viel Engagement fürs Degagement, lieber Lothar. Hast Du mal über Missionsarbeit nachgedacht? D

  7. Arist v. Schlippe sagt:

    Lieber Lothar, Danke für Deinen anregenden und nachdenklichen Text, den ich ausgesprochen entlastend finde. Herzliche Grüße Arist

  8. Hardy Keil sagt:

    In meiner tagesklinischen Arbeit ( psychiatrische Institutsambulanz ) begegne ich fast täglich Menschen mit
    den von Lothar Eder beschriebenen Problemen. Somit kann ich seine Beschreibungen sehr gut nachvollziehen. Ergänzen würde ich folgendes : ” Auch in der klinischen-ambulanten-Arbeit ( PIA ) habe ich es mit wirtschaftlicher Leistungserbringung und dem damit verbundenen Stress zu tun. Ich bin einerseits wie
    von Hr. Eder beschrieben auf der Beobachtertribüne, andererseits Betroffener eines klinischen Regelwerks,
    dass sich zum Ende eines Quartals in Zahlen niederschlagen ” muss “. Ich habe es mit Patienten zu tun die
    mit ” Industrie 4.0 ” ( eine große Firma in unserem Einzugsgebiet ist da führend ) dort ” nicht mehr mitkommen ” und in unserer Tagesklinik bzw psychiatrischen Institutsambulanz weitestgehend ” gesündere ” Regulationsmöglichkeiten für sich finden wollen um dann in das gleiche beriebliche Regelwerk wieder einzusteigen. Die tagesklinische Arbeit und die Arbeit in der Ambulanz ist ,wie einige Patienten beschreiben, eine” Insel auf Zeit “mit der Chance auf regenarative Begegnungen zwischen Helfern ( mit teilweise ähnlichen Problemlagen wie die Patienten )und den Hilfesuchenden.

    • Lothar Eder sagt:

      Lieber Herr Keil,
      freut mich, von Ihnen zu hören (Gutenhalde, Filderstadt, wenn ich es richtig zuordne?),
      Auch für Sie eine besinnliche Adventszeit! Lothar Eder

      • Hardy Keil sagt:

        Lieber Herr Eder,

        an den Ort an dem wir Recht haben, werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr. Der Ort an dem wir Recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof. Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. Und ein Flüstern wird hörbar an dem Ort, wo das Haus stand, das zerstört wurde.
        Jehuda Amichai (1924 – 2000 )

        Diese Zeilen habe ich heute morgen entdeckt und ich dachte ich schicke Sie Ihnen.
        Auch Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit.

        Hardy Keil

  9. Rufer Martin sagt:

    Lieber Lothar Eder

    Ein schöner Text, eine schöne 3.Kerze, die Tom uns von Dir zum 3.Advent anzündet und ein “Fenster der Innerlichkeit” (vita contemplativa) öffnet. Und wenn Du schon Byung-Chul Han erwähnst auf der Suche nach dem, was ist und gilt und (nicht) zu machen wäre, dann hier gleichsam sein “Wort zum Adventssonntag”: “Vertrauen ist nur möglich in einem Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Vertrauen heisst, trotz Nicht-Wissen gegenüber dem anderen eine positive Beziehung aufzubauen. Es macht Handlungen möglich trotz Nichtwissen” ( aus “Die Zeit”, 19.01.2011).

    Mit vorweihnächtlichem Gruss
    Martin Rufer

    • Lothar Eder sagt:

      Lieber Martin Rufer,
      auch Dir danke für die Resonanz und dass Du Byung-Chul Han aufnimmst. Er gilt zwar als eine Art “Modephilosoph”, aber es lohnt sich m.E. sehr, ihn zu lesen,
      eine schöne Adventszeit! Lothar Eder

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