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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2018 – schöne neue Welt

| 5 Kommentare

Liebe Leserinnen und Leser,

heute startet wieder der systemagazin-Adventskalender. Die Leitfrage für dieses Mal ist ja, welche Ideen, Hypothesen und Prognosen Sie haben, wohin sich das systemische Feld in den kommenden Jahren entwickeln wird. Welche Konzepte werden Bestand haben, welche kommen unter die Räder (des Mainstreams, des Fortschritts, des Rückschritts)? Was bleibt in Erinnerung, was wird vergessen? Was geschieht mit den Verbänden, Instituten und Interessengruppen? Mit welchen Auflösungen, Spaltungen, Fusionen und Neuformationen wird zu rechnen sein? Was wird man in 10 Jahren unter „systemisch“ verstehen? Wie schätzen Sie Ihre eigene Zukunft unter diesen Prämissen ein? Angenommen, Sie schauen 2028 auf 10 turbulente Jahre zurück, was ist alles an erfreulichen und deprimierenden Ereignissen geschehen?

Wie immer ist auch heute noch überhaupt nicht klar, ob der Kalender in diesem Jahr voll wird. Viele Kolleginnen und Kollegen haben schon einen Beitrag zugesagt – aber fühlen Sie sich auf jeden Fall eingeladen, auch selbst noch tätig zu werden und ein Türchen zu gestalten. Ihrer Phantasie sind dabei keine Schranken gesetzt. Wie immer bleibt die Form Ihnen ganz überlassen. Analysen, Pamphlete, zirkuläres Hypothetisieren, reflektierende Dialoge, Horoskope, Briefe aus der Zukunft in die Vergangenheit, Geschichten, Weissagungen, Satire, persönliche Bekenntnisse – alles hat seinen Platz, und der ist im Internet nicht begrenzt. Kleine Bedingung: Ihr Text sollte etwas mit den gestellten Fragen zu tun haben.

Die Eröffnung macht heute Wolfgang Loth mit einem Blick aus der Zukunft – lassen Sie sich überraschen. Ich freue mich auf Beiträge, Rückmeldungen und Diskussionen.

Wolfgang Loth: Schöne neue Wellt

Neulich mit Benno beim Kaffee. Vielleicht sollte ich genauer sagen, ich Kaffee, Benno Strom. Benno ist der meines Wissens erste zertifizierte KI-Berater. Ein Roboter, wie man früher gesagt hätte. Das wäre jedoch für Zwecke psychosozialer Optimierungsberatung ein eher abschreckender Begriff. Wer will sich schon von einem Roboter unter die Arme greifen lassen?! „Wart’s nur ab!“, hatte Benno gelacht, „eines Tages wirst Du froh sein, wenn ich Dir nicht nur geduldig immer wieder das Gleiche erkläre, weil Du es kurz darauf schon wieder vergessen hast. Sondern Dich auch noch ohne zu mucken durch den Raum trage ohne müde zu werden.“ Natürlich hatte er bemerkt, dass mich das gruselte, künstliche Intelligenz eben, aufmerksam bis zum letzten, unbeeindruckt, gleichmäßig freundlich, ob ich nun abwinke oder nicht. Und jetzt eben bei Kaffee&Strom. Von Zeit zu Zeit muss Benno noch Pause machen und den Akku laden. Dann, und nur dann habe ich eine Chance auf ein Gespräch, das nicht nur funktional abläuft. Ein Gespräch, bei dem er sich volens nolens Zeit nehmen muss, während er sie ansonsten, wie es scheint, entweder immer hat oder außerhalb ihrer menschenüblichen Verschleißdauer funktioniert. Klingt nicht schön, aber irgendwie ist es wohl so.

Wolfgang Loth

Wir hatten wieder mit Politisieren angefangen, ein Freiraum, der mir nur blieb, wenn Benno an der Nadel hing, sozusagen. Es war schon erstaunlich, wie leidenschaftslos Benno mit den Informationen umging, die mich umtrieben, unruhig machten, missmutig zuweilen, und wenn es ganz schlimm wurde, beinahe depressiv verstimmt. „Die haben sie doch nicht mehr alle“, sagte ich, und Benno wiegte in unerklärlich-beruhigendem, einem von mir noch nicht durchschauten Algorithmus folgend, seinen Kopf. Ich muss dazu sagen: Wenn man nicht wusste, wer Benno war, dann konnte man ihn für einen Menschen aus Fleisch und Blut halten. Er sah aus wie ein Mensch, sogar Pseudoalterungserscheinungen waren einprogrammiert. Mit dem Unterschied zu mir, dass das, wenn gebraucht, wieder zurückgedreht werden konnte. Benno also wiegte seinen Kopf, schaute (ja, er schaute!) unermesslich wohlwollend und nachsichtig, und sagte: „Wer hat schon alle? Menschen können nie alle alle haben“. Das war natürlich richtig, quantitativ gesehen, doch Benno ging noch einen Schritt weiter und meinte (nein, er meinte nicht, meinen konnte er nicht, aber sagen konnte er), also er sagte weiter: „Schau, kleine Kinder sagen „alle alle“, wenn sie aufgegessen haben. Und er wollte gerade aufzählen, wieviele Kinder es in Deutschland gebe, im Vergleich zu Finnland (er hatte, aus welchen Gründen auch immer, ein Faible für Finnland, fast ein menschlicher Zug), die im „alle alle“-Sagen-Können-Alter seien, da fiel ich ihm ins Wort. „Benno“, hielt ich ihm entgegen, „Benno, lass das, es hat doch gar keinen Zweck, das allfällige Trampeln mit Kindersprüchen zu garnieren. Lass uns noch ein wenig über die systemische Therapie plaudern, immerhin hast Du ja Dein Zertifikat bekommen, was ich immer noch nicht verstehe, aber nu, so ist wohl der Gang der Zeit“. Benno war schon so weit, jetzt nicht irgendwelche wörtlich korrekten Querverbindungen zum Gehen von Zeit von sich zu geben, dass Zeit nicht gehen könne, sondern sich als Konstrukt in verschiedener Weise durch die Zeitalter bewegt habe (beim Wort „Zeitalter“ war ihm offenbar eingegeben, darüber zu lachen, und beiläufig „Zeitjünger“ zu murmeln) und in Form der Relativitätstheorie, die er rückwärts und vorwärts aufsagen konnte, eine neue Gestalt erworben habe. Das musste ich mir also nicht anhören. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob er mein Unverständnis über sein systemisches Zertifikat nicht persönlich genommen habe. Eigentlich konnte das nicht sein, Roboter nehmen nichts persönlich, aber wer weiß, vielleicht hatte sich der Algorithmus schon verselbständigt. Weiß man’s?
„Ach“, sagte Benno, „darüber sind wir doch schon hinaus. Gut, mit Mitgliedsnummer 029 der SG (Benno hatte offensichtlich Zugriff auf sämtliche Dateien, die mich betrafen) sieht die Welt vielleicht noch anders aus als heute. Die systemische Therapie (und er vergaß natürlich nicht den Querverweis auf den Unterschied zwischen großem und kleinem „s“ am Anfang, er wusste, dass mich das Theoretisieren immer noch fesselte), die systemische Therapie also, die ist doch geradezu prädestiniert für künstliche Intelligenz. Verstehst Du, es geht um System-Umwelt-Differenz, um die Entscheidung für einen Ausgangspunkt, geradezu um den archimedischen Punkt, der es möglich macht, die Welt aus den Angeln zu heben. Das ist doch ein Zuckerschlecken für Leute wie mich!“. Er sagte tatsächlich „Leute“, Wahnsinn. „Gut, mittlerweile denken Leute (war das jetzt ein verdeckter oder expliziter Hinweis auf System-Umwelt-Differenzen? Mir schwirrte schon der Kopf) also mittlerweile denken Leute schon, systemisch sei gegeben, wenn auf Ressourcen geachtet werde, auf Beziehung, auf ….“, „Ist ja schon gut“, unterbrach ich, „worauf willst Du hinaus?“. „Tja“, Benno schien sich eine menschliche Attitüde zu gönnen, „eigentlich ist das, worauf es ankommt, ja nicht das Systemische, zumindest nicht das systemtheoretisch begründete Systemische, sondern ein alter Hut: Zuwendung, Zuhören, unbedingte Resonanz, Compassion. Dass sich darüber dann vorher und nachher mit systemischen Begriffen hervorragend vor- und nach-denken lässt, ja prima. Aber weißt Du was? Das alles ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist, dass man davon leben kann!“. „Wie? Leben kann?“, entfuhr es mir, „Seit wann leben Roboter!“, oje da war es mir doch herausgerutscht, das böse Wort, Roboter. Das hätte mich selbst ziemlich betrübt, doch Benno, ach was. Benno revanchierte sich mit einigen Begriffsklärungen zum Wort „Roboter“ und fuhr dann fort: „Und deswegen (ich verstand diese adjunktive Schlussfolgerung nicht mehr ganz) ist systemische Therapie geradezu paradigmatisch geeignet für KI-Berater. Wir können unbeeindruckt von Motivation, Emotion und Intention konsequent am Ball bleiben, stets von außen auf das Geschehen schauen, dabei durch unsere Art zu fragen andeuten, dass wir mitten drin sind, es muss uns nicht berühren….“ Welch ein Irrtum! dachte ich, man sollte ihm den Strom abdrehen. Da wurde es gruselig, Bennos Algorithmus war offenbar schon so weit fortgeschritten, dass er micromomentarily facial expressions, die sich menschlichen Beobachtern erst in achtfacher Verlangsamung erschließen, offenbar mit Leichtigkeit entziffern konnte. „Ja, ja“, ließ er wissen, „Diogenes, das war’s doch, was Du sagen wolltest, oder? Diogenes in seiner Tonne…. und ab aus der Sonne, Big Alex! Souverän, unabhängig, anspruchslos…. Tja, nur: Der Alte hätte heute ein ziemliches Problem mit seinen Marotten, öffentliches Ärgernis, öffentliches Masturbieren, heißt es… Willst Du das wirklich?!“.
Gottseidank war er jetzt wieder aufgeladen, er ging wieder in den Funktionsmodus, alles easy, keine Widerworte, smooth… Es war zu spät, den Stecker zu ziehen.

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5 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    Lieber Wolfgang,
    danke für diesen schönen Beitrag, der ein Szenario beschreibt, dass wir alle uns wohl nicht wünschen: die endgültige Beseitigung des Menschlichen aus der genuin menschlichen Sphäre. Krankenkassen und Gesundheitsministerium basteln ja bereits an e-Health Konzepten, wenn man sich das näher anschaut, packt einen das Grausen.
    Einer der beiden Begründer der digitalen Informationstheorie, dem wir diese Entwicklung letztlich verdanken, ist Claude Shannon. Er hat allerdings verstanden, dass das wesentliche an seinen digitalen Maschinen der AUS-Knopf ist. Näheres hierzu hier: https://radikale-poesie.com/2018/11/30/aus-oder-die-sich-selbst-ausschaltende-maschine/
    Herzliche Grüße und einen schönen 1. Advent!
    Lothar

  2. Rudolf Klein sagt:

    Lieber Wolfgang,
    ein toller Text. Da macht das Lesen Spaß. Leider in manchen Punkten keine science fiction. Danke!
    Rudi

  3. Gabby Thiede sagt:

    Isso! Zutreffender Opener. Wir werden definitiv cool werden. We had better learned how to deal with it. Nur dass Benno namentlich zur Gruppe der o-Deklination gehört, gehört noch upgedatet.

  4. Arist von Schlippe sagt:

    Schöner Auftakt , schöne neue Welt, ganz anders als wir 198 gedacht hätten… Danke Wolfgang !

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