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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Soziale Systeme 2012

Bohn, Cornelia, Arno Schubbach & Leon Wansleben (2012): Editorial: Welterzeugung durch Bilder. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 5-6.

Heintz, Bettina (2012): Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1949-2010. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 7-39.

abstract: Der Aufsatz interpretiert Statistiken als numerische »Weisen der Welterzeugung«. Er untersucht, auf welche Weise Statistiken die Welt darstellen und sie gleichzeitig als übergeordnetes Ganzes – als »(Welt)Gesellschaft« – erfahrbar machen. Indem Statistiken heterogene und weltweit verstreute Ereignisse auf einige wenige Vergleichsdimensionen reduzieren, erzeugen sie einen Vergleichszusammenhang, der unter Umständen globale Reichweite hat. Am Beispiel der UN-Bevölkerungsstatistik von 1949 bis heute wird gezeigt, wie sich der statistische Blick auf die Welt in den letzten sechzig Jahren verändert hat und was sich soziologisch daraus lernen lässt. In einem ersten Abschnitt wird das soziologische Konzept des Vergleichs eingeführt und auf Globalisierungsprozesse bezogen. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Statistiken als einer besonderen Form numerischer Vergleiche. Der Schwerpunkt liegt auf der Institutionalisierung der nationalen Statistik im 19. Jahrhundert und ihren Folgen für die ›Entdeckung‹ der Gesellschaft in der Soziologie. Der dritte Abschnitt bildet das Kernstück des Aufsatzes. Am Beispiel des Wandels des Klassifikationssystems der UN-Bevölkerungsstatistik von 1949 bis heute wird dargestellt, wie die globale Ordnung in diesem Zeitraum beobachtet und beschrieben wurde. Die Ergebnisse dieser Analyse weisen darauf hin, dass bis in die späten 1960er Jahre die imperiale Ordnung und nicht die segmentäre Differenzierung in formal gleichberechtigte Nationalstaaten als Normalfall betrachtet wurde. Erst 1970 wird der Nationalstaat in der statistischen Beobachtung zu einer globalen Kategorie. Der Aufsatz nimmt dieses Ergebnis zum Anlass, die systemtheoretische »Primatsthese« auf der Basis der neueren Imperiumsgeschichte einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. In einem vierten und letzten Abschnitt wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Statistik und Gesellschaftsbegriff noch einmal aufgegriffen und auf globale Zusammenhänge bezogen: Lässt sich analog zur nationalen Statistik auch von einer »Geburt der Weltgesellschaft aus dem Geist der internationalen Statistik« sprechen?

Bohn, Cornelia (2012): Bildlichkeit und Sozialität. Welterzeugung mit visuellen Formen. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 40-68.

abstract: Die Studie identifiziert in den soziologischen Sozialitätstheorien eine fraktale Distinktion: Auf der eine Seite der Unterscheidung stehen optisch-visuell geführte Sozialtheorien und Forschungsprogramme (Simmel, Goffman, neuere interaktionistische Forschungen), die andere Seite fokussiert auf Sprache (Mead, Luhmann). Der Beitrag plädiert für eine Resymmetrisierung von Bildlichkeit und Sprachlichkeit im Aufbau soziologischer Theoriebildung. Er widmet sich dem Problem der Konstruktion der Bildlichkeit als soziales Faktum, dessen welterzeugendes Potenzial – so die These – sich im rekursiven Gebrauch visueller Formen erschließt. Es wird eine Sichtung von Theoriebeständen und interdisziplinären Forschungsresultaten vorgenommen. Die daraus resultierenden Vorschläge lauten erstens – mit Rekurs auf Medientheorien (die Überbrückung der Alter-Ego-Divergenz und die Medium-Form-Theorie) – Bildlichkeit als eine Form im Medium der Visualität aufzufassen. Bildlichkeit und Sprachlichkeit werden dabei weder als durcheinander ersetzbare noch als völlig autonome Modi verstanden. Zweitens kann Bildlichkeit – mit Rekurs auf und in Modifikation von Husserls Überlegungen zum »Bildbewußtseins« – als eine dreistellige, artefaktabhängige, vom Wahrnehmungsmodus unterschiedene genuin soziale Sinnform analysiert werden; drittens werden Verweislogiken immanenter und instruktiver Bildlichkeit unterschieden. Die Studie schließt mit Beispielen instruktiver Bildlichkeit aus Neuroradiologie und Ökonomie.

Schubbach, Arno (2012): Das Bilden der Bilder. Zur Theorie der Welterzeugung und ihrer bildtheoretischen Verpflichtung. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 69-93.

abstract: Der wechselseitige Zusammenhang zwischen der Theoriebildung der Welterzeugung auf der einen und Zeichen- sowie Bildbegriffen auf der anderen Seite steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Die Konzeption der Welterzeugung ist seit Wilhelm von Humboldt und insbesondere bei Nelson Goodman vorrangig an Sprache und Zeichen orientiert, die von ihren materialisierten Vollzügen oder auf Dauer gestellten schriftlichen Aufzeichnungen entkoppelt werden. Sie werden so auf den Spuren der transzendentalphilosophischen Tradition als autonome Strukturen begriffen, die unserer Erfahrung zugrunde liegen und der Welt vorgeordnet sind. Bilder werden dagegen meist dezidiert als Artefakte verstanden, deren Bedeutung und Erfahrung nicht von der Materialität ihrer Träger losgelöst werden können. Daher erfordert die Welterzeugung durch Bilder eine eigenständige Theoriebildung. Sie ordnet die Bilder und ihr Bilden der Welt unserer Erfahrung nicht vor, wie es in erster Linie Fichte, aber auch Cassirer ausgehend von Kants Konzeption der Einbildungskraft anstrebten. Sie versteht die Welterzeugung durch Bilder als lokalisierte und damit verteilte Prozesse in einer Welt, an deren Erzeugung sie nur insoweit Anteil haben können, als sie selbst materieller Teil derselben sind. Diese alternative Konzeption der Welterzeugung wird anhand der Studien des Kunstwissenschaftlers Aby Warburg und des Wissenschaftsforschers Bruno Latour ausgeführt.

Khurana, Thomas (2012): Idee der Welt. Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 94-118.

abstract: Der Begriff der ›Welt‹ hat, wenn wir darunter das »Ganze aller Erscheinungen« verstehen, nicht den Status eines Begriffs, dem ein Gegenstand der sinnlichen Anschauung korrespondieren könnte. Er fungiert vielmehr als transzendentale Idee. Eine solche Idee, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als notwendig für die Vereinigung unserer Erfahrung bestimmt, lässt sich »niemals im Bilde entwerfen« und bleibt »ein Problem ohne alle Auflösung«. Die Antinomien der reinen Vernunft entspringen für Kant gerade daraus, dass man Ideen dieser Art als Begriffe von gegebenen Gegenständen missdeutet. Dass Welt sich gegen eine derartige Vergegenständlichung sperrt, bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt nicht im Medium der Anschauung zur Darstellung käme. Der Beitrag geht anhand von Kants Kritik der Urteilskraft der Weise nach, wie die Idee der Welt auf Anschauung und Einbildungskraft bezogen ist und wie Welt im Medium anschaulicher Darstellung zur Artikulation und Reflexion kommt.

Petzke, Martin (2012): Visualisierung und Differenzierung. Zur wahlverwandtschaftlichen Beziehung bildlichen Eigensinns und der Konstitution eigenlogischer Sinnsysteme am Beispiel der Religion. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 119-152.

abstract: Der Beitrag geht dem wechselseitigen Adäquanzverhältnis des Eigensinns bildlicher Darstellungen und der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme nach. Hierfür wird am Beispiel Georg Simmels und Niklas Luhmanns eine differenzierungstheoretische Tradition rekonstruiert, die auf die Heraussonderung spezifischen Sinns abstellt. Es wird gezeigt, wie eine derart verstandene Differenzierung in ihren entscheidenden Attributen – i.e. der Homogenisierung von Sinn, der Konstruktion einer sachspezifischen ›Welt‹ sowie der besonderen Anschlusslogik – mit den bildlichen Potenzialen der Kombination von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, der Synoptizität und der visuellen Rhetorizität im Einklang steht. Die konstitutive Rolle, die Bilder aufgrund dieser Wahlverwandtschaft für Differenzierungsphänomene einnehmen, wird am Beispiel der Religion illustriert. Hier sind es religionsbezogene Kartographien, die zunächst im 17. Jahrhundert einen Diskurs globaler Religionsvergleiche flankieren und dann im Zuge der neu in Gang kommenden Mission des 19. Jahrhunderts katalytisch auf einen Sinnzusammenhang einwirken, in deren Zentrum die christliche Bekehrung einer Weltpopulation steht. Diese Sinnsphäre wird heute durch das evangelikale Christentum getragen, das solche Karten mit den technischen Potenzialen des Internets aufrüstet.

Krämer, Sybille (2012): Karten erzeugen doch Welten, oder? In: Soziale Systeme 18 (1+2): 153-167.

abstract: Dass Karten ihr Territorium abbilden oder diesem gar ähnlich sind, ist ein theoretisches Tabu geworden für kulturkritische und konstruktivistisch orientierte Positionen; die Leitidee ist dabei: Karten erzeugen, was sie zeigen. Der Aufsatz setzt sich mit dieser Diskreditierung von Abbildung und Ähnlichkeit kritisch auseinander, indem er ein grundlegendes Wechselverhältnis zwischen Erzeugung und Abbildung diagnostiziert. Der Zweck des Kartengebrauchs besteht darin, ein fremdes Terrain für einen Kartennutzer in einen zugänglichen Bewegungsraum zu verwandeln und zwar mithilfe der indexikalischen Verortung der Nutzerin in der Karte. Solche kartographische Operation gelingt nur, wenn eine strukturbewahrende Abbildung mit Hilfe einer Projektionsmethode sowie die freie Erfindung von Hilfslinien wie Längen- und Breitengrade, miteinander interagieren. Abbildung und Erzeugung schließen sich bei Karten also nicht aus, sondern schließen sich ein. Dieser kartographische Impuls, der darin besteht mithilfe der Karte ein unbekanntes Terrain für einen Akteur in einen Handlungsraum zu verwandeln, kann auch auf den Umgang mit Wissen übertragen werden: Was die Karte für das alltägliche räumliche Orientierungsverhalten, das ist dann das Diagramm für das Orientieren auf Wissensfeldern. Was das bedeutet wird an historischen Beispielen erläutert: den Weltkarten von Klaudius Ptolemaios und Gerhard Mercator, aber auch anhand der graphischen Aufzeichnung des philosophischen Weltenaufbaus in Platons Liniengleichnis.

Werron, Tobias (2012): Wie ist globale Konkurrenz möglich? Zur sozialen Konstruktion globaler Konkurrenz am Beispiel des Human Development Index. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 168-203.

abstract: Angesichts zahlreicher internationaler ›Rankings‹ und ›Ratings‹ intensiviert sich der Streit um die Vor- und Nachteile globaler Konkurrenzen aller Art. Der Aufsatz geht von der Diagnose aus, dass die Soziologie auf diese Debatte nicht gut vorbereitet ist, weil Standardbegriffe der Konkurrenz zu alltagsnah gebaut sind und daher den spezifischen Entstehungsvoraussetzungen globaler Konkurrenzen nicht gerecht werden. Um diese Lücke zu schließen, entwickelt er (1) ein an Georg Simmel angelehntes kommunikationstheoretisches Modell globaler Konkurrenz, welches die Globalität von Konkurrenzen nicht primär an die globale Inklusion der Konkurrenten, sondern an die Vorstellung globaler Publika und entsprechender ›weicher‹ globaler Güter wie Aufmerksamkeit, Legitimität und Prestige knüpft. Dieses Modell impliziert die These, dass öffentliche Vergleichsschemata wie Rankings globale Konkurrenz nicht nur symbolisieren, sondern ermöglichen und produzieren, indem sie solche ›weichen‹ globalen Güter konstruieren und verknappen (›artifizielle Nullsummenspiele‹). Diese These wird (2) an einer spezifischen Form globaler Konkurrenz, der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten um Modernitätsprestige, illustriert sowie an Internetdarstellungen eines Rankings, des ›Human Development Index‹ (HDI) der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen, überprüft. Die Analyse des HDI zeigt exemplarisch, wie Rankings zur Konstruktion globaler Konkurrenz um Modernitätsprestige beitragen: Indem sie unbeschränkte Erweiterbarkeit der Zahl der Vergleichsobjekte, unbeschränkte quantitative Differenzierung von Leistungsniveaus und visuelle Vergleichssuggestionen (Tabellen, Karten, andere Graphiken) miteinander kombinieren, können sie Prestigegewinne eines Ranglistenteilnehmers immer zugleich als Verlust eines anderen erscheinen lassen – also als knappes Gut, um das konkurriert werden kann.

Porter, Theodore M. (2012): Irrenärzte aller Länder! Tabular Unity and the Nineteenth-Century Struggle to Comprehend Insanity. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 204-224.

abstract: Die Anstaltsmedizin, das erste medizinische Fachgebiet, war wahrscheinlich auch der Bereich der Medizin, der als erster statistisch erfasst wurde. Bereits im frühen 19. Jahrhundert nutzen Irrenärzte Statistiken, die hohe Heilungsraten auswiesen, um für ihre Anstalten zu werben. Als sich jedoch die Institutionen füllten und die Heilungsraten nach unten gingen, wurden, vor allem von Frankreich ausgehend, Versuche zur internationalen Harmonisierung der Statistiken unternommen, die den Zusammenhang zwischen zivilisatorischem Fortschritt und Geisteskrankheit erhellen und aufzeigen sollten, welche Anstalten über erfolgreiche Behandlungsmethoden verfügten. Im späten 19. Jahrhundert wurde jedoch deutlich, dass das internationale Standardisierungsprojekt aufgrund unterschiedlicher rechtlicher und administrativer Rahmenbedingungen in den verschiedenen Ländern fehlgeschlagen war. Ambivalente Kategorien in den Statistiken hatten auch dazu geführt, dass findige Anstaltsdirektoren die Statistiken ihrer Institutionen zugunsten vorteilhafter Heilungsraten manipuliert hatten. Das Scheitern und der gelegentliche Wahnsinn von globalisierten Statistiken sind nicht spezifisch für Geisteskrankheit und können zumeist nicht auf Fehler zurückgeführt werden, die durch mangelnde individuelle Rationalität begründet sind. Die negativen Erfahrungen mit internationaler Standardisierung im Kontext der Anstaltsstatistiken lassen sich vielmehr auch auf andere Bereiche übertragen, im Speziellen auf die Metriken und Indikatoren, die mit den neoliberalen Regimes zur Wende des 21. Jahrhunderts Verbreitung gefunden haben.

Wansleben, Leon (2012): Heterarchien, Codes und Kalküle. Beitrag zu einer Soziologie des algo trading. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 225-259.

abstract: Der Einsatz von algorithmischen Handelssystemen hat sich innerhalb kurzer Zeit unter Teilnehmern auf Finanzmärkten verbreitet. Bisher haben Soziologen vor allem die Automatisierungen der Börsenplätze untersucht, durch die algo trading überhaupt erst möglich wurde. Wie sich die Praxis und Organisation des Finanzhandels selbst verändert hat, wurde allerdings kaum erforscht. In diesem Beitrag sollen Heuristiken für entsprechende Forschungen entwickelt werden. Auf Grundlage erster empirischer Daten wird argumentiert, dass algo trading eine grundlegende Rekonfiguration der Praxis des Finanzhandels impliziert: Während im traditionellen Handel Händler die Kernaktivitäten (Formierung von views, Positionsmanagement) monopolisieren konnten, wird algo trading in viel stärkerem Maße auf unterschiedliche Gruppen (Entwickler, Informatiker, Händler) verteilt. Diese Gruppen entwickeln mit je eigenen Codes eigene professionelle Perspektiven auf Algorithmen. Nicht nur die technische Operationalisierung, sondern auch die ökonomischen Kalküle des Finanzhandels haben sich verändert: algo-trading-Firmen treffen bereits mit der Selektion und Kombination von Personal und Technologien folgenreiche Entscheidungen; auch firmenintern verändert sich die Zurechnung von Leistungen und Risikoverantwortungen. Als wesentlicher zukünftiger Forschungsbedarf wird die Analyse der Mobilität von Personen, Teams und Codes innerhalb organisationaler Felder identifiziert.

Šuber, Daniel (2012): Von Fäusten und Fingern, Visuelle politische Kommunikation im gegenwärtigen Serbien. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 260-299.

abstract: Der Beitrag verknüpft ein mediologisches Interesse an der politischen Funktion von Bildern mit der empirischen Beobachtung der nationalpolitischen Auseinandersetzungen im post-jugoslawischen Serbien. Die Kombination beider Fragekomplexe erscheint sozialwissenschaftlich interessant vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Ansicht, dass im serbischen Fall der politische Diskurs in einem vielleicht sogar einzigartigen Ausmaß durch ein spezifisches national-kulturelles Imaginarium imprägniert ist, das auf die legendäre Schlacht auf dem Amselfeld zurück verweist. Dieser Allgemeinbefund soll im Folgenden gerade nicht als Explanandum genommen werden, sondern als Explanans. Es werden kultur- und visualsoziologische Ansätze in Stellung gebracht, um die Ausgangshypothese mit einer empirischen Beobachtung der über Kollektivsymbole und visuelle Medien ausgetragenen politischen Kämpfe im gegenwärtigen Serbien zu kontrastieren. Zum Vorschein gelangen auf diese Weise überraschende Interferenzen zwischen verschiedenen Ebenen des politischen Diskurses und komplexe Interdynamiken zwischen Semantiken der Öffnung und Schließung.

Lim, Il-Tschung (2012): »Know your Money!« Falschgeldbeobachtung und visuelle Echtheitssicherung von Geld in der US-amerikanischen Ökonomie (18.-20. Jahrhundert). In: Soziale Systeme 18 (1+2): 300-322.

abstract: Der Beitrag kombiniert Perspektiven der sozial- und kulturwissenschaftlichen Fälschungsforschung mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse an der visuellen Kommunikationsstilistik in der Praxis der Geldfälschung, ihrer sozialen Funktion sowie den Strategien und Kulturtechniken ihrer Prävention. Der Fokus liegt dabei auf den spezifischen Bildoperationen in der Falschgeldbeobachtung des US-amerikanischen Falschgelddiskurses (18. bis 20. Jahrhundert). Die Falschgeldbeobachtung wird als spezifisch bildmediale Artikulation einer ›Vertrauensagentur‹ aufgefasst, die in potenziell kritischen Situationen eines normalerweise störungsfreien Normalfunktionierens symbolgestützter Operationen als Entstörungsprogramm an der (Wieder-)Herstellung der Integrität der kommunikativen Standards eines regelkonformen Symbolgebrauchs teilhat. Die These lautet, dass im Kontext des Falschgelddiskurses Beobachtungsoperationen intrinsisch Bildoperationen darstellen. Bildgestützte Kommunikationen und Visualisierungsformen in der Falschgeldbeobachtung sind als eigenständige Instanzen der sozialen Sinnproduktion zu betrachten, die an der Formierung der Sinngrenzen einer geldvermittelten Ökonomie konstitutiv partizipieren.

Hinterwaldner, Inge (2012): Erlebnis-Raum in Der Garten und Heufieber. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 323-345.

abstract: Normalerweise erfolgt die Situierung des Betrachters zur gebotenen Bildwelt über die Perspektivierung, beispielsweise durch die Zentralperspektive, die dem Publikum einen bestimmten Blickpunkt zuweist. Mit zeitbasierten Arbeiten ist es hingegen möglich, entweder die Perspektivierung als eine dynamisierte zu exemplifizieren oder Veränderungen des Blickpunktes über die Art der gezeigten bildlich-motivischen Dynamik in der Rezeption zu provozieren. Der Beitrag zielt darauf ab, verschiedene Weisen der Verschränkung zwischen Perspektivierung und Bildzeitlichkeit zu thematisieren. Die künstlerische Animation Der Garten macht mit bildnerischen Mitteln erfahrbar, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der Umwelt letztere für die Tätigen je unterschiedliche Qualitäten annimmt. Zur Verdeutlichung wird der Darstellungsraum mit den Handlungen der Protagonistin korreliert und damit auch dynamisiert. Die zweite besprochene Arbeit, das Video Heufieber, funktioniert insofern analog, als dass das im ersten Beispiel gezeigte Motiv einer Weltgestaltung nun in die Rezeption verlagert ist und somit als Erfahrung nicht mehr für andere externalisiert wird. Der antizipierte aktive Betrachter moduliert seinen Raumeindruck aufgrund der gesammelten Erfahrungswerte angesichts von Abläufen. Um das komplexe Phänomen zu umkreisen, werden theoretische Positionen aus unterschiedlichsten Gebieten herangezogen: Über die Beobachtung (zweiter Ordnung) und Niklas Luhmann lässt sich Handeln und Betrachten verschränken, mit Henri Bergson wird die qualitative Auffassung von Raum denkbar und schließlich bietet Ludwig Wittgenstein neben der Gestaltpsychologie über den Aspektwechsel ein theoretisches Instrumentarium, um die festgestellten Bildraumumschwünge in Heufieber zu charakterisieren.

Konersmann, Ralf (2012): Welterzeugung durch Kulturmetaphern. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 346-359.

abstract: Am Beispiel des Kulturbegriffs und seiner Genese lässt sich zeigen, wie bildhafte Vorstellungen dem Begriffsverständnis vorgreifen. Metaphern strukturieren Denkräume. Die Kulturmetapher des ›Gartens‹ lässt diese Funktionen und ihre Zweideutigkeit exemplarisch hervortreten: Solange sie intakt war und eine umfassende Gartenmetaphysik begründete, das heißt von der Antike bis zum berühmten Romanschluss von Voltaires Candide (»il faut cultiver notre jardin«), blockierte diese Metapher die Emphase einer Eigenwelt des Menschen. Der Garten ließ, was einmal ›Kultur‹ heißen sollte, im Großen und Ganzen des Kosmos verschwinden. Erst die von Goethe geprägte Krisenmetapher des ›Weltgartens‹ bezeugt die Freisetzung der modernen Begriffe ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹, die in den großen Wörterbüchern Ende des 18. Jahrhunderts erstmals auftauchen.

Juneja, Monica (2012): The world as narrative. Reconfiguring vision in early modern Eurasia. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 360-385.

abstract: Dieser Aufsatz behandelt Prozesse einer sich formenden und sich neu konfigurierenden Visualität in der frühen Neuzeit, betrachtet unter dem Aspekt der Schaffung und Narrativierung der Welt. Er fragt danach, in welchem Maße die Begegnung mit der Welt über das gemalte Bild vermittelt und gedeutet wurde. Infolgedessen betrachtet er die unterschiedlichen Weisen, in denen Bilder selbst durch ihre spezifischen Produktionsprozesse zum Ort der Herstellung von Weltlichkeit werden. Obwohl sein primärer Fokus auf Südasien liegt, stellt er die Erforschung künstlerischer Praktiken der Visualisierung der Welt in einen transkulturellen Bezugsrahmen, um das konstitutive Potenzial von Beziehungen über geographische und kulturelle Grenzen hinweg zu untersuchen, die durch die Wanderung von Gegenständen, handelnden Personen, Bildern, mythischen Idealen und Praktiken vermittelt werden. Das Bild der Welt und die verschiedenen Weisen seiner Darstellung werden auf zwei verschiedenen, aber miteinander in Verbindung stehenden Ebenen untersucht: erstens die abstrakte Darstellung der Welt durch einen Gegenstand, den Globus, und zweitens das Narrativ der Welt, das untrennbar ist von dem perspektivischen Blick, welcher eine Weltsicht im gemalten Bild neu konfiguriert. Dieses funktioniert dann als Raum kosmopolitischer Erfahrung aufgrund seines Potenzials, das andere visuell festzuschreiben und gleichzeitig zu zähmen.

Elsaesser, Thomas (2012): World Cinema: Realismus, Evidenz, Präsenz. In: Soziale Systeme 18 (1+2): 386-402.

abstract: Das Weltkino (in der Nachfolge des nationalen Kinos) hat sich seit jeher gegenüber Hollywood durch seinen grösseren Realismus abgegrenzt. Ob man an den italienischen Neo-Realismus denkt, den semi-dokumentarischen Cinéma Vérité-Stil der französischen Nouvelle Vague oder aber an den klinisch sondierenden psychologischen Realismus eines Ingmar Bergmann: unsere Vorstellung von einem „repräsentativen“ oder „authentischen“ Filmschaffen sind im Allgemeinen an irgendeine Form von realistischer Ästhetik gebunden. Gleichzeitig thematisiert das Weltkino gegenwärtig immer häufiger, dass wir im Kino des 21. Jahrhunderts nicht mehr länger unseren Augen trauen können. Während filmische Verfahren, wie etwa statische Kameraeinstellungen, Schärfentiefe oder Plansequenzen – alles traditionelle Kennzeichen für eine realistische Filmästhetik und für Techniken des filmischen Dokumentarismus – immer noch Verwendung finden, werden sie heute jedoch für andere Zwecke eingesetzt. Materialistische Kritiken des filmischen Realismus im klassischen Hollywood-Kino orientieren sich nicht mehr an einem Brecht’schen Verständnis einer realistischen Ästhetik als Verfremdungseffekt, noch eifern sie dem politischen Realismus des „Third Cinema“ der 1970er Jahre nach. Stattdessen scheinen solche filmischen Techniken in den Vordergrund zu rücken, die in der Konstruktion kinematografischer Repräsentationen auf Elemente des Fantastischen und der Magie zurückgreifen, die von Geistergeschichten und spektralen Erscheinungen genährt werden. Diese Filme spielen mit linearen Zeitstrukturen, Erinnerungen und vertrauten chronologischen Ordnungen, und machen somit unweigerlich die (Sinnes-)Wahrnehmung selbst zum eigentlich zentralen Thema. Der Essay stellt theoretische und historische Zusammenhänge für die ästhetischen Transformationen innerhalb des Weltkinos vor, und diskutiert darüber hinaus am Beispiel von Filmen des koreanischen Regisseurs Kim Ki-Duk die konzeptionellen Verschiebungen in der Vorstellung von Realismus als Teil der ‚Welterzeugung durch Bilder‘. Dies könnte schließlich auch dabei helfen, umstrittene Begriffe wie ‚Evidenz‘, ‚Authentizität‘ und (Zuschauer-)‚Präsenz’ zu klären.

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Ein Kommentar

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