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Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“

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2004 erregte ein optimistisches Manifest von Hirnforschern, u.a. auch Gerhard Roth und Wolf Singer, ein gewisses Aufsehen, in dem diese die wesentlichen Rätsel der Funktionsweise des Gehirns als grundsätzlich lösbar erklärten, die Klärung der Einzelheiten sehr vor allem eine Frage der Zeit und der eingesetzten Ressourcen: „In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“ Nun ist auf der website von „Psychologie Heute“ ein „Memorandum ,Reflexive Neurowissenschaft’“ erschienen, das von 15 Professoren unterzeichet wurde, darunter Felix Tretter (Redaktion), Thomas Fuchs, Felix Hasler, Georg Northoff, Stephan Schleim und Wolfgang Tschacher. Hier zeigt sich, dass sich der Optimismus inzwischen weitgehend gelegt bzw. relativiert hat. Einleitend heißt es im Memorandum: „Vor 10 Jahren, im Jahr 2004 wurde der Öffentlichkeit ein Manifest von Neurowissenschaftlern präsentiert, das eine äußerst optimistische Zukunftsperspektive der Hirnforschung erkennen ließ. Unter anderem sollten neue Neurotechnologien die Enträtselung des Gehirns und damit des Geistigen ermöglichen, und für die klinische Praxis sollten bald effektivere und nebenwirkungsärmere Psychopharmaka entwickelt werden. Schließlich sollte ein neues, wissenschaftlich fundiertes Menschenbild entstehen.
Die heutige Bilanz fällt aus unserer Sicht allerdings eher enttäuschend aus. Eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht. Die Ursachen dafür gehen weit über organisatorisch-technische Schwierigkeiten hinaus und liegen einerseits an Schwächen im Bereich der Theorie der Neurowissenschaft, andererseits an zu wenig durchdachten naturalistischen Vorannahmen und Konzepten, die wünschenswerte Brückenschläge zur Psychologie, Philosophie und Kulturwissenschaft nachhaltig erschweren.
Bereits die oftmals unzulängliche Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen hat auf vielen Feldern zur Überschätzung eigener Erklärungsansprüche geführt: Selbstverständlich ist ohne Gehirn alles nichts, aber das Gehirn ist nicht alles, denn es benötigt den Körper, und der Körper benötigt die Umwelt. Aussagen wie „Psychische Prozesse beruhen auf Gehirnprozessen“ führen uns nicht weiter, denn psychische Prozesse benötigen auch die Atmung, den Blutkreislauf usw.
Auch die Verkürzung der Psychologie auf alltagsweltliche Begriffe und Konzepte und auf einfache Experimente ist problematisch. So bleibt oft unbeachtet, ob die experimentelle Operationalisierung einer Funktion den psychologischen Inhalt dieser Funktion zutreffend widerspiegelt. Außerdem zeigt die Forschung, dass eine psychische Funktion (z.B. Sehen) an mehreren Gehirnorten realisiert ist und dass andererseits ein Gehirnort an mehreren Funktionen beteiligt ist. Damit werden mehrere Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung psychischer Funktionen zu Hirnstrukturen erkennbar. Dies beruht auf dem Netzwerkcharakter des Gehirns. Dieser Aspekt muss ausdrücklicher als zuvor durch die Einbindung der Systemwissenschaft berücksichtigt werden. Sie kann als mathematisch fundierte Disziplin helfen, die Funktionsweise des Gehirns als System zu verstehen. Das Gehirn ist ja aus Milliarden von zellulären Schaltkreisen aufgebaut, die eine hochkomplexe Signalaktivität aufweisen.
Um Gehirnfunktionen angemessen verstehen zu können, ist daher eine enge und institutionalisierte Zusammenarbeit von Biologie, Psychologie und Systemwissenschaft erforderlich, und zwar unter essenzieller Beteiligung der Philosophie mit ihren Facetten der Anthropologie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie. Eine bloße Ergänzung der (neuro)biologischen Beschreibung durch einige psychologische und geisteswissenschaftliche Randaspekte ginge am Ziel vorbei. Nur wenn die klinische Praxis, also Psychiater und Neurologen, in die Forschung eingebunden wäre, könnte die nötige Transdisziplinarität  zustande kommen, die eine neue, diskursive und reflexive (nachdenkliche) Neurowissenschaft entstehen lässt, die auch ihre eigenen Grundlagen hinterfragen und ihre Grenzen erkennen kann.
Letztlich ist die Reduktion des Menschen und all seiner intellektuellen und kulturellen Leistungen auf sein Gehirn als „neues Menschenbild“ völlig unzureichend. In diesem einseitigen Raster ist der Mensch als Subjekt und Person in seiner Vielschichtigkeit nicht mehr zu fassen. Es ist immer die ganze Person, die etwas wahrnimmt, überlegt, entscheidet, sich erinnert usw., und nicht ein Neuron oder ein Cluster von Molekülen.“
Der Text ist frei im Netz zugänglich,
und zwar hier…

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