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Notiz zur Liberalen Ironikerin und zu Poetischem Denken

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Matthias Ohler, Bad Dürkheim

Richard Rorty gehört zu den Autoren, die in der systemischen Szene zu wenig wahrgenommen oder diskutiert werden. Eine von ihm eingeführte, sehr überzeugende Denk-Figur ist die der liberalen Ironikerin. Rorty stellt sie in seinem Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität vor, das 1989 bei Cambridge University Press erschien und bereits im gleichen Jahr in deutscher Sprache bei Suhrkamp. So liest sich das:
Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich „liberale Ironikerin“ nenne. Meine Definition des „Liberalen“ übernehme ich von Judith Shklar, die sagt, Liberale seien die Menschen, die meinen, dass Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun. „Ironikerin“ nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – (…).Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, (…) dass Leiden geringer wird, dass die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.Konkret führt die Exposition seines Ziels Richard Rorty zu der Überlegung:
Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als „einen von uns“ sehen statt als „jene“, hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind. Das ist eine Aufgabe (…) für Sparten wie Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane. (…)
Auf systemtheoretisch könnte man, was Rorty avisiert, vielleicht so verstehen: der Gedanke, psychische, biologische und soziale Systeme würden nur in einem doch noch zu rettenden, bislang noch unverstandenen Ganzen unser Bild vom ganzheitlich zu verstehenden Menschen erlauben, führt in eine totalitäre, menschliche Möglichkeiten, menschlich zu sein, extrem behindernde Forderung nach Gleichschaltung.
Ich verstehe die liberale Ironikerin als die Figur – oder sagen wir ruhig: als die Person, die das unternimmt, was ich mit poetisch denken bezeichne. Es ist eine Form des Denkens, die – unter Beibehaltung auch des Ziels von Verbindlichkeit – weniger argumentiert als vielmehr radikal beschreibt. Mit einem Anspruch auf Wahrheit allerdings, die sich aber in dem erweist, was uns jetzt möglich wird zu tun, das uns niemals eingefallen wäre, ja, wozu wir gar nicht in der Lage gewesen wären, bevor so beschrieben wurde. Hier sind Texte von Arendt, Beauvoir, Bonder, Camus, Freud, Heidegger, Lessing, Maturana, Proust, Reinhard, Simon, Wittgenstein und all die unveröffentlichen Wunderwerke der „Namenlosen“ nicht aufeinander reduzierbar, sondern am gleichen Webeprozess beteiligt – alle auch mit dem gleichen Risiko, zeitweise ausgemustert zu werden.
Hannah Arendts Idee, niemand habe das Recht, zu gehorchen, ist so ein typisch poetisches Denken. Durch ihren geschickten sprachlichen Spielzug bringt Hannah Arendt die nur scheinbar unter gegenseitigem Ausschluss stehenden Sprachspiele gehorchen und ein Recht haben in einen Zusammenhang, wodurch zu gehorchen fürderhin immer eine Entscheidung sein wird, für die man selber die Verantwortung trägt. Insofern ist die Idee auch nicht selbstwidersprüchlich, wie von einigen, die sich´s einfach machen wollen, behauptet wird, sondern überwindet den Kleingeist dieser Logik durch poetischen Scharfsinn. Könnte man sagen.

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