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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Lothar Eder: Wer schreibt der geht: warum Lesen und Schreiben manchmal in Tabubereiche führt

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Es gibt im Alltag Konstanten, auf die man sich verlassen kann. Zum Beispiel, dass es im Winter kälter wird. Oder dass bei einer Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft Italien gegen uns immer gewinnt. Oder dass man, wenn man in systemischen Foren von „Seele“, „Unbewußtem“ oder dem „Humanum“ spricht (bzw. schreibt) sicher sein kann, im günstigsten Fall auf milde-überlegenes Lächeln zu treffen. Nicht unwahrscheinlich ist auch, dass man gewissermaßen einer unsystemischen Haltung geziehen wird (vielleicht wäre auch das Wort „unsystemische Umtriebe“ angemessen?).
Dieses Geschehen scheint mir völlig nachvollziehbar. Jede Gruppierung, Strömung, Gemeinde („Community“) schafft sich Identitäten, sie schafft sich Überzeugungen und damit – ganz i.S. Luhmanns – Ein- und Ausschlüsse. Mitglieder des Systems reagieren dann mit Zustimmung oder Ablehnung auf Operationen von Akteuren: passen sie zur eigenen „Religion“ oder nicht?
Damit wäre ich beim Punkt: ich habe Luhmann vor 10, 15 Jahren mit großer Begeisterung gelesen und hatte damals den Eindruck, von der Lektüre enorm bereichert worden zu sein (was sicherlich bis heute stimmt). Mir fällt allerdings ein Satz aus den „Sozialen Systemen“ ein, den ich vor Jahren einmal als Leitmotto über ein Buchkapitel gestellt habe. Der Satz lautet: „Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück“.
Heute finde ich diesen Satz in mehrfacher Hinsicht falsch. Der Satz tut so, als gäbe es eine Evolution von Erkenntnis, in dem die Auseinandersetzung mit kommunikativen Prozessen weiter vorne steht als diejenige mit der Seele. Der Satz behauptet zudem (implizit), dass Kommunikation ein komplexes Geschehen sei, das Seelische aber „einfach“. Sollte Luhmann dies tatsächlich so gemeint haben, dann irrt er gewaltig. Womöglich (oder gar wahrscheinlich) liegt dies daran, dass er sich mit dem Seelischen gar nicht befasst hat, zumindest nicht in der Tiefe. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn von einem Soziologen erwartet man gewöhnlich keine seelenkundlichen Aussagen. Dennoch aber sind Luhmanns Aussagen zum Seelischen im eigentlichen Wortsinne beachtlich: denn sie sind ja der metatheoretische Rahmen, in dem die Hauptströmung der (deutschsprachigen) Systemischen Therapie das Seelische sieht.
Für eine psychologische Betrachtung aber, auch für eine psychotherapeutische, ist eine Theorie und Therapeutik, welche das Seelische in den erforderlichen Hinsichten berücksichtigt, per se unerlässlich. Dass dies mit einer Luhmannschen Perspektive allein hinreichend geschieht und geschehen kann, daran habe ich mittlerweile erhebliche Zweifel. Um eine Analogie zu gebrauchen: mit einer physikalischen Metatheorie alleine – und sei sie noch so brillant – könnte man schwerlich organische Chemie betreiben.

Das Jahr 2007 bedeutete für mich persönlich eine Wende. Ich verließ das systemische Ausbildungsinstitut, das ich mitgegründet hatte, die Mannheimer Gesellschaft für systemische Therapie (MaGST). Die Neugründung eines anderen Institutes scheiterte. Ich war nun also kein aktiver systemischer Lehrtherapeut mehr. Und was mich wunderte war, dass ich dies als stimmig empfand. Jahre später, bei der Lektüre von C.G. Jung und seinen „seelischen Endabsichten“ im Prozess der Individuation, wurde mir diese Stimmigkeit klar. Ich hatte an einem Scheideweg gestanden, ohne es zu wissen. Ich hatte damals (scheinbar) mehrere Optionen zur Auswahl: mehr im Bereich Coaching und Ausbildung zu arbeiten oder mich auf meine ursprüngliche Identität als Seelenkundler zu besinnen. Und meine innere Antwort war im Laufe von Wochen und Monaten klar: ich bin ein „Psycho“. Wenn man so will, hat meine Seele („mein psychisches System“ zu sagen, geht mir an dieser Stelle reichlich gegen den Strich) das „gewusst“. Es war mir bewusst, dass die Aussicht auf Einkommen und Renommee in anderen Bereichen als der Psychotherapie größer waren, v.a. im systemischen Kontext. Aber ich hatte mich im Alter von 13 Jahren in dieses Fach Psychologie verliebt (damals allenfalls im Besitz einer leisen Ahnung, was es beinhaltet), habe es mit Überzeugung und großer Enttäuschung über den Mangel an Hermeneutik studiert (fast wäre ich gescheitert, zum einen an der Statistikprüfung im 2. Semester, zum anderen an aberwitzigen Blütenträumen, statt eine Diplomarbeit in Psychologie eine Kabarettistenlaufbahn zu beginnen) und war im Besitz einer Approbation und Kassenzulassung für Verhaltenstherapie. Somit besann ich mich auf mein „Kerngeschäft“: meine Psychotherapiepraxis.
Als weiterer veränderungsstiftender Aspekt kam dazu, dass ich mich seit Jahren auf Psychosomatik als therapeutischen und theoretischen Schwerpunkt spezialisiert hatte. Meine Sichtweisen zu einer „systemischen Psychosomatik“ habe ich in mehreren Fachartikeln und einem Buch („Psyche, Soma und Familie. Theorie und Praxis einer systemischen Psychosomatik“, 2007 erschienen) veröffentlicht. In der Beschäftigung mit Patienten, die eine psychosomatische Problematik mitbrachten, wurde mir nach einiger Zeit klar, dass bestimmte systemische Arbeitsweisen nicht oder nur eingeschränkt funktionieren. Zum Beispiel ergibt es wenig Sinn, einen psychosomatischen Patienten nach seinem Therapieauftrag zu fragen. Später, als ich mich mit psychodynamischen Ansätzen beschäftigte, wurde mir klar warum: die Besonderheit psychosomatischer Störungen (letzterer ein in der ST verpönter, aber doch aufgrund seiner Etymologie wie ich finde sehr stimmiger Begriff) liegt eben gerade darin, dass ein ungelöster psychischer Konflikt auf der körperlichen Ebene ausgetragen wird. Er ist vordergründig nicht bewusst und nicht direkt zugänglich. Einen psychosomatischen Patienten zu fragen, was denn am Ende der Therapie herauskommen könnte, ist meiner Meinung nach ebenso effizient als würde ich meinen Kater fragen, ob er sein Futter morgen nicht selber kaufen könne.

Hier ist ein aus meiner Beobachtung weiteres wesentliches Element des systemischen Mainstreams angesprochen. Es wird in der systemischen Literatur oft so getan, als seien Patienten (ich verstehe sie nicht mehr als Kunden) uneingeschränkt über sich selbst auskunftsfähige Subjekte. Meine eigene, durch die Arbeit mit psychosomatischen Problemen angestoßene Sichtweise ist mittlerweile eine andere: Patienten brauchen eine Begleitung, die sie zu einem besseren Verständnis ihrer selbst führt. Ich kann diesen Prozess nicht besser beschreiben als mit der Freudschen Denkfigur: es geht darum, Unbewusstes bewusst und damit zugänglich zu machen. Der Zweck dieses Vorgehens liegt allein darin, dem Patienten die Zusammenhänge seines seelisch-körperlichen Symptomgeschehens zugänglich, verstehbar und damit veränderbar zu machen. Die für mich entscheidende Leitfrage kommt für mich an dieser Stelle allerdings nicht von Freud, sondern von C.G. Jung (den ich nebenbei für den eigentlichen Paten und Meister der Ressourcenorientierung halte): „Was will das (dieses Symptom, diese Krankheit, dieses Problem) von dir?“ Die Systemische Therapie hat nach meiner Einschätzung nicht nur stillschweigend diese Leitfrage übernommen und als eigenes Gedankengut ausgegeben, sie benutzt ohnehin in reichlichem Maße psychodynamische Aspekte: z.B. setzen Modelle wie das der Delegation oder von unsichtbaren Bindungen in Familien unbewusste Prozesse implizit voraus, egal ob man diese so benennt oder nicht (ähnliches gilt m.E. für das Modell der inneren Familie oder das der Externalisierung). Ein weiterer Aspekt: das Bemühen um eine Entpathologisierung therapeutischen
Denkens und Handelns beraubt meiner Meinung nach sowohl Therapeuten als auch Patienten einer wesentlichen Tiefendimension menschlichen Erlebens: derjenigen des Leids. So zu tun, als gäbe es diese Dimension nicht, kommt mir – zugespitzt formuliert – so vor als würde man per Dekret Temperaturen unter Minus 10 Grad abschaffen. Gerade Jung hat, wie ich meine, gezeigt, welch reichhaltige Ressourcen im Anerkennen des Leids einer Symptomatik liegt und im „Verstehen“ der darin enthaltenen „Botschaften“. Allerdings muss man es im Kontakt mit Patienten dann auch aushalten, diesem Umstand Raum zu geben und darauf verzichten, Patienten mit scheinbar lösungsorientierten oder zirkulären Fragen zu „bombardieren“.
Ich denke an ein Zitat des Schriftstellers Daniel Kehlmann: „Es gibt Reiche unterhalb von Vernunft und Sprache“. In der ST, so scheint mir, verschwinden diese Aspekte hinter einer Überbetonung der Besprechung von dem Patienten bewusst verfügbaren und sprachlich auszudrückenden Elementen. Zudem: die fast dogmatische Festlegung, dass eine Therapie in großen Abständen und begrenzt auf maximal 12 Sitzungen erfolgen müsse (gilt die eigentlich noch?) erscheint mir bei einigen – Verzeihung! – Störungen wie die Aufforderung, Kunstfehler zu begehen. Mit psychosomatischen Patienten sind Kurztherapien meist nicht möglich, mit traumatisierten Patientinnen und Patienten (denen oft erst nach längerer Therapiedauer im Rahmen einer haltgebenden therapeutischen Beziehung der Zugang zu traumatisierenden Ereignissen möglich ist) ebenso wenig.
So habe ich mich, ohne es zu beabsichtigen, aus dem Bereich des gültigen systemischen Kanons schreibend, lesend und therapierend hinausbewegt, hinein in gewissermaßen tabuisierte Gefilde. Aus heutiger Sicht würde ich nicht mehr von einer „systemischen Psychosomatik“ sprechen (und schreiben). Es gibt die Psychosomatik als theoretischen Ansatz und Therapeutik, und in diesen Ansatz können (und sollen) systemische Sichtweisen einfließen.

Katalysiert wurde der Veränderungsprozess meiner Perspektive zudem durch die zeitweilige Mitgliedschaft in einem Forschungskolleg an der Universität Hildesheim zum Thema „qualitative Psychotherapieprozessforschung“. Eigentlich sollte hierbei eine Dissertation herauskommen, die ich auch begann, dann jedoch einsehen musste, dass ich dieses Vorhaben neben einer Vollzeitpraxis nicht zu Ende würde führen können. Ich brach die Arbeit ab, nahm aber eine reiche Fülle von Anregungen und Erkenntnissen mit. In diesem Kolleg praktizierten wir eine minutiöse Analyse der konversationalen Geschehnisse in Therapien anhand von Therapietranskripten. Geleitet wurde das Kolleg von dem Soziologen Stephan Wolff und dem Psychologen und Psychoanalytiker Michael B. Buchholz. V.a. durch die Verbindung von Konversations- und Metaphernanalyse, der genauen Betrachtung konversationaler Anschlüsse in Therapien geschah etwas, was ich nicht für möglich gehalten hatte: dass ich als Systemiker jemals würde eine Faszination für Psychoanalyse entwickeln können. Das war ungefähr so, als würde man als Anhänger von Borussia Dortmund plötzlich Sympathien für Bayern München entwickeln (oder umgekehrt): never ever! Zu meinem Erstaunen aber war hier ein Brückenschlag offenbar möglich: die Betrachtung von Konversationsprozessen als eigentliche systemische Domäne zusammen mit einer genauen Betrachtung, wie im metaphorischen Sprachgebrauch von Patienten deren innere Konfliktorganisation in die Konversation einfließt. Eine perfekte Verbindung einer systemischen (kommunikativen, konversationalen) und einer psychodynamischen Perspektive.
So ist es bis heute geblieben. Dieses im Titel angedeutete Gehen ist kein Weggehen. Es ist vielmehr ein Ausschreiten eines weiteren Terrains, eine Erweiterung der Erkundungs- und Erkenntniszone. Heute denke ich, dass der Konversationsbegriff für eine Therapeutik oft sinnvoller ist als derjenige der Kommunikation. Ich kann zudem schwer verstehen, weshalb die systemische Therapie ein anthropologisches Kernthema wie Bindung vernachlässigt und es den Psychodynamikern überlässt, wo es doch eigentlich in ihre „Zuständigkeit“ fällt. Stattdessen konzentriert sie sich meiner Meinung nach zu sehr auf epistemologische Fragestellungen. Und sie wählt sich hierfür eine metatheoretische Rahmung, die von der Philosophin Elisabeth List mit gewisser Berechtigung einmal (bezogen auf Maturana) als „Theorie, die aus der Kälte kam“ bezeichnet wurde. Peter Sloderdijk bescheinigt der Systemtheorie in gewohnt überspitzender Formulierung, den „Autismus von Einzelwesen“ zu fördern: „ […] die Systemtheorie ist die Fortführung des Idealismus mit anderen Mitteln, Und Idealismen entstehen, wenn Denker meinen, etwas gefunden zu haben, was ihnen das Zusammenleben mit anderen erspart. Die einzige Alternative zu einer überspannten Systemtheorie wäre ein hinreichend tief verankerte Anthropologie […]“ (in „Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira“, S. 109). Therapeutisch zu handeln erfordert nicht nur kommunikatives Geschick, es erfordert die Fähigkeit, die hinter den Äußerungen des Patienten stehenden Intentionen, mitgebrachten Haltungen, Erfahrungen zusammen mit ihm (ihr) zu „lesen“. Eine annehmende, begleitende therapeutische Haltung scheint nach aller Erkenntnis hierbei förderlich zu sein. Dieser eher mit Wärme assoziierte Aspekt von Psychotherapie lässt sich, wie ich finde, schwerlich von Luhmann oder Maturana beziehen. Sie findet sich eher in einer personzentrierten systemischen Therapie wie der von Jürgen Kriz, der darin Aspekte der (psychodynamisch begründeten Gestalttherapie) aufgreift. Was ich in der systemischen Therapie gelernt habe ist die Bedeutung von Landkarten. Wenn ich das seelische Terrain betrete, erweisen sich psychodynamische Landkarten als durchaus tauglich. Dies überrascht nicht weiter, denn schließlich war Freud der erste, der das Gebiet systematisch erkundet hat. Und er hat sehr konsequent aus den seelischen Gegebenheiten heraus geschrieben. Wer ihm spekulatives Denken vorwirft, müsste das gleiche Luhmann entgegenhalten. Auch hier hat mein systemischer Hintergrund mit sehr geholfen: er enthält für mich die Ermutigung, Tabus zu brechen und Tabuzonen zu begehen. Und Freud zu lesen (was ich nur in bescheidenem Umfang, aber mit Gewinn getan habe) dürfte fast als maximaler systemischer Tabubruch gelten. Meine erstaunliche Erkenntnis auf diesem Weg lässt sich in einer Frage von Fritz Simon zusammenfassen: „In der Praxis funktioniert es, aber funktioniert es auch in der Theorie?“. Meine persönliche Antwort ist klar: es ist mir vordergründig relativ egal, ob systemische und psychodynamische Theorie konkordant sind oder nicht. In der Praxis (so meine eigene Deutung meines Vorgehens) ist es eine gewaltige Bereicherung, systemische, verhaltenstherapeutische und psychodynamische „Brillen“ zu haben und über entsprechende Haltungen und Vorgehensweisen zu verfügen. So wird hier (und das wird mir genau jetzt beim Schreiben bewusst) einmal mehr ein Sowohl-als-auch deutlich: diesen Weg gegangen zu sein, macht sowohl das Gehen als auch das Bleiben möglich.

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