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Kriegserbe in der Seele

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Udo Baer & Gabriele Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft

Udo Baer & Gabriele Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft

Lothar Eder, Mannheim: Beschäftigung mit einer lange tabuisierten Thematik: Umgang mit Traumata bei Angehörigen der deutschen Kriegsgeneration und den Folgen für ihre Kinder und Enkel

Seit Beginn der Jahrtausendwende ist zu beobachten, dass ein bisher vernachlässigtes Thema publizistisch in den Fokus rückt: die Auswirkungen von Krieg und Vertreibung der Deutschen im zeitlichen Kontext des zweiten Weltkrieges und den darauf folgenden Ereignissen. Dieses Interesse nährt sich vor allem aus einem Generalmotiv: nämlich die damaligen und die folgenden Generationen, ihr Erleben, ihre seelischen Verletzungen und Einschränkungen besser zu verstehen. Insbesondere die Bücher von Sabine Bode stechen hier heraus (zu nennen wäre u.a. der thematische Erstling Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen, 2004). Darin spürt sie individuellen Schicksalen von Kriegskindern nach; und sie tut dies anhand von Interviews mit heutigen Erwachsenen, die das damalige Geschehen als Kinder erlebt haben. Ausgangspunkt ist in der Regel ein psychisches Problem oder eine als Problem erlebte Verhaltensweise (z.B. die Unfähigkeit, nahe Beziehungen einzugehen). Der Erzählfaden spannt sodann die Geschichte auf und macht das heutige Geschehen im Kontext von Zeit und Familie verstehbar. In der Gesamtschau ergibt sich aus den Einzelschicksalen eine fast kollektive Traumatisierung der damaligen Generation. Mittlerweile gibt es einige weitere journalistisch-dokumentarische Veröffentlichungen, die ähnlich gelagert sind.

Auch aus wissenschaftlicher und therapeutischer Sicht erfuhr das Thema systematische Erforschung. Michael Ermann, mittlerweile emeritierter Professor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie (und selbst ein als Kind Vertriebener) widmete diesen Fragestellungen ein großangelegtes Forschungsprojekt („Kriegskindheit im II. Weltkrieg und ihre Folgen“, www.kriegskindheit.de). Des Weiteren ist Hartmut Radebold zu nennen, Arzt und bis 1998 Professor für Klinische Psychologie in Kassel, der sich von der psychotherapeutischen Seite her intensiv mit der Thematik beschäftigte. Von ihm stammt das richtungsweisende Buch Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit (2005), das sich hauptsächlich der Hilfe für Kriegskinder im Alter widmet. Einen explizit transgenerationalen Rahmen wählt zudem seit vielen Jahren Margarete Hecker (em. Professorin für Sozialpädagogik in Darmstadt) mit Familienrekonstruktionsseminaren zum Thema „Traumatische Kriegserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen“. Und natürlich drängt sich in diesem thematischen Rahmen die Frage auf, ob wir Deutsche uns diesem Aspekt der eigenen Opferschaft legitimerweise überhaupt zuwenden dürfen (exemplarisch hierzu: Radebold, ebda., S. 28-31).

Zu den neuesten Publikationen im Themenkreis gehört das 2015 im Beltz Verlag erschienene Buch „Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft“. Geschrieben wurde es von Dr. Udo Baer und Dr. Gabriele Frick-Baer, Gesundheits- bzw. Erziehungswissenschaftler und beide langjährige Traumatherapeuten (zuletzt erschien von ihnen 2014 Das große Buch der Gefühle). Es schließt gewissermaßen an das neugewonnene und enttabuisierende Interesse an den traumatischen Folgen von Krieg und Vertreibung für die deutsche Bevölkerung an, und gibt ihm einen neuen Fokus: „Wie können die Kinder und Enkel der Kriegsgeneration mit den Folgen der Erlebnisse und Traumata der Eltern bzw. Großelterngeneration umgehen?“. Angeklungen war dies bereits in den Veröffentlichungen Sabine Bodes, in denen sie die jeweiligen individuellen (mehr oder weniger gelungenen) Lösungsversuche ihrer Protagonisten schilderte.

Während Rabold aber die Kriegskinder selbst in den Fokus rückte, widmen sich Baer und Frick-Baer also nun explizit den transgenerational erworbenen Belastungen der Folgegenerationen und der Frage, wie man diese bewältigen oder loswerden kann. Diese Perspektive ist nicht neu, aber sie sich als Schwerpunkt zu wählen ist eine wichtige und lobenswerte Aufgabe.

Das Buch wendet sich explizit an Betroffene (also Kinder und Enkel der Kriegsgeneration), kann jedoch auch als Anregung für professionelle Helfer angesehen werden. Im Ansatz unterscheidet es sich z.B. von Radebolds Vorgehen: dieser extrahiert seine Erkenntnisse aus therapeutischen Prozessen mit Betroffenen. Baer und Frick-Baer hingegen wählen zum einen einen beratenden bzw. ratgeberischen Ansatz, der – sehr vergröbernd – der Devise „was mache ich bei …“ folgt; sie leiten diese jedoch auch aus therapeutischen Vignetten und Prozessdarstellungen ab. Lobenswert hervorzuheben ist eine gewissermaßen psychodynamisch-mehrgenerationale Sichtweise, welche ein aktuell als problematisch erfahrenes Erlebens- oder Verhaltensmuster in einen zeit(geschicht)lichen und herkunftsfamilialen Bezugsrahmen setzt. Dabei nehmen die Autoren eine Übergeneralisierung in Kauf. Nicht jede „innere Aufgeregtheit“ oder „chronischer Druck“ hängen zwangsläufig mit Kriegserlebnissen der Eltern zusammen, auch wenn das Eröffnen dieser Blickachse in vielen Fällen gewinnbringend ist. Dies aber ist generell das Manko von Ratgebern, da sie nicht wie Therapien eine dialogische Abklärung der faktischen Ursachen ermöglichen.

Es fehlt ein Stichwortverzeichnis. Dies ist in einem Ratgeber nicht zwingend, wäre aber zur Orientierung doch sehr hilfreich. Zudem wird in der Lektüre kein einziger Bezug zu den Arbeiten von Boszormenyi-Nagy zur mehrgenerationalen Perspektive und insbesondere zu Stierlins Konzepten von Delegation und (bezogener) Individuation hergestellt; beide für das Fach grundlegende Generalfolien scheinen im Buch zwar implizit auf, erfahren jedoch – weshalb? – keine explizite Erwähnung. Auch, und damit soll dann vorerst Schluss sein mit kritischen Anmerkungen, klingt der Anspruch „was wirklich hilft“ doch einigermaßen vollmundig und harrt seiner Einlösung jenseits des persönlichen Arbeitsrahmens der Autoren.

Das Buch gliedert sich im wesentlichen in fünf Kapitel: Wie Sie sich besser verstehen, Wie Sie das Irritierende an Ihren Eltern und Großeltern besser verstehen, Wie Sie Erklärungen finden, Wie Sie den Schritt beiseite schaffen und Wie Sie Ihre eigene Persönlichkeit würdigen. Ergänzt werden diese durch zwei weitere Kapitel, die sich mit dem Thema „Verstehen vs. Verzeihen“ und mit „Antworten auf häufige Fragen“ beschäftigen.

Es ist das große Plus dieses Buches, dass es eine Vielzahl von Fallgeschichten enthält, die von den Autoren sorgfältig aber doch so übersichtlich berichtet werden, dass man schnell in der Lage ist, Struktur und Kern der jeweiligen Problematik zu verstehen. Sie erhellen und illustrieren die Bandbreite des Themas und ermöglichen eine unmittelbare Nachvollziehbarkeit. Es folgt dann jeweils eine verstehende Deutung der Zusammenhänge durch die beiden Autoren, sodann werden Empfehlungen an die jeweiligen Klienten dargestellt. Dabei werden auch allgemeine und allegemeiner bekannte Aspekte herausgearbeitet wie beispielsweise die der Folgegeneration unverständliche Weigerung, Essen wegzuwerfen oder die mangelnde Fähigkeit der Kriegsgeneration, Gefühle zu zeigen oder auf diese zu reagieren; der Leser kann an vielen dieser Stellen in eine Selbstreflektion der eigenen Geschichte eintreten. Auch der „Ausgang“ der jeweiligen Geschichte bzw. der Problematik kommt nicht zu kurz. Es werden konkrete Veränderungen im Erleben und Verhalten der Klienten beschrieben. Positiv zu vermerken ist, dass Baer und Frick-Baer auch aufzeigen, was nicht gelingt. Oft eben gibt es Nichtlösbares, nicht überall gelingt Austausch und Verständigung zwischen den Generationen, nicht immer ist eine Problematik, obwohl sie mehrgenerational verständlicher ist, dadurch auch „gelöst“.

Natürlich kommt ein Buch, das sich diesem Thema widmet, ohne die Thematisierung der Schuldfrage nicht aus. Sie scheint in der öffentlichen Meinung weitgehend beantwortet. Andererseits gibt und gab es bedeutende Stimmen wie z.B. die des ersten Bundesvorsitzenden der SPD nach 1945, Kurt Schumacher, die sich kategorisch gegen eine Kollektivschuld aussprachen und davor warnten, diese gar auf nachfolgende Generationen auszuweiten. Die Autoren führen exemplarisch „die Frau“ an, die womöglich Hitler gewählt hat (wobei Hitler bekanntermaßen nicht durch einen Wahlvorgang des Volkes an die Macht kam) und später (sozusagen als Konsequenz) von Gewalt und Vertreibung heimgesucht wurde (demnach z.B. aus Ostpreußen oder Schlesien stammte und vor der Roten Armee floh). Der Rezensent ist an dieser Stelle versucht, der Frau einen Anwalt zur Seite zu stellen, der zumindest einwendet, dass die Frau womöglich mit ihrer Wahl Hitlers (erinnert sei daran, dass die letzte freie Wahl in Deutschland im Nov. 1932 stattfand) nicht gleichzeitig für Krieg oder Judenmord gestimmt, sondern in der keineswegs friedlichen Zwischenkriegszeit nach einem sicheren Anker gesucht hat. Zum anderen könnte der Anwalt einwenden, dass die alliierten Besieger des Bösen folgerichtig für andere Vorgehensweisen hätten stehen müssen als jene, die sie den Nazis vorhielten und dann selbst praktizierten bzw. duldeten (z.B. die Verbrechen der Roten Armee): Massenmord, Folter, Verschleppung, Vertreibung und massenweise Vergewaltigung. Man dürfte, so meine ich, der exemplarisch angeführten Frau keineswegs eine Opferschaft 2. Ranges zuweisen, denn auch das käme einer Relativierung gleich.

Die Stärken des Buches übertreffen seine Schwächen bei weitem. Es regt seine Leser an, die eigene Familiengeschichte unter dem Aspekt von Krieg und Vertreibung genauer unter die Lupe zu nehmen. Dieser Punkt kann nicht deutlich genug positiv hervorgehoben werden; denn das eigene, als problematisch erlebte Verhalten und Erleben in einen mehrgenerationalen Rahmen zu stellen, kann für sich genommen bereits eine enorm befreiende und damit auch heilende Wirkung haben. Damit hilft das Werk, eigene problematische Erlebens- und Verhaltensweisen in den Rahmen des Schicksals der eigenen Herkunftsfamilie einzufügen und sich und seine (Groß-)Eltern besser zu verstehen. Die unbedingt empathische Perspektive der Autoren auf die Nachkriegsgeborenen bietet diesen Hilfe beim Verständnis für sich selbst an, es ermuntert darüberhinaus nicht nur zur Selbstfürsorge, sondern bietet vielerlei methodische Anregungen zur Selbsthilfe. Damit enthält es auch reichhaltiges Werkzeug und Anregungen für professionelle Helfer, welche bereits für diese Thematik sensibilisiert sind. Spätestens nach der Lektüre des Buches sollten sie es sein. Von daher verdient „Kriegserbe in der Seele“ für die genannten Lesergruppen eine unbedingte Empfehlung.

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Leseprobe

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Udo Baer & Gabriele Frick-Baer (2015): Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft

Beltz Verlag, Weinheim. 3. Aufl., 189 S., 16,95 €. ISBN 978-3-407-85740-8

Verlagsinformation:

Kriegserlebnisse und die durch sie verursachten Traumata hinterlassen oft über Generationen Spuren in Familien, ohne dass diese konkret benannt werden können. Dieses Buch zeigt, woran Kriegskinder und Kriegsenkel die Folgen der von den Eltern oder Großeltern »vererbten« Traumata bei sich selbst erkennen. Es bietet konkrete Hilfe an, etwa bei scheinbar unbegründeten Ängsten, nicht zu greifenden Einsamkeitsgefühlen, dem quälenden Gefühl der Liebesunfähigkeit oder übermäßigem Leistungsdruck. Eine Fülle von Übungen helfen, den »Schritt beiseite« aus der Weitergabe von Kriegstraumata zu wagen.

Inhalt:

Vorwort 9

Wie Sie sich besser verstehen 13
Angst – ohne zu wissen, warum 14
Die Schwierigkeit, zu trauern 17
Schrecken ohne Worte 21
Schmerz ohne Trost 24
Leere und das schwarze Loch 27
Herzenseinsamkeit 31
Leistungsdruck 33
Unstimmigkeiten – oder: Wo ist Heimat? 36
Schuldgefühle ohne Schuld 40
Unsicherheit oder: Wie geht Mannsein? 43
Unsicherheit und: Was bedeutet Frausein? 47
»Gib dich nicht hin!« 50
»Das machst du nicht noch mal!« 53
Kalte Erziehung 56
Nicht wirklich groß werden 59
Wie Sie das Irritierende an Ihren Eltern und Großeltern besser verstehen 63
Schweigen 64
Heldengeschichten 66
Das Schönste ist, wenn wir zusammen sind 68
Abschütteln 70
Gefühle auf Sparflamme 73
Stell dich mal nicht so an! 77
Immer auf 180 80
Bloß kein Risiko! 83
Sag immer, wo du bist! 85
Nichts wegwerfen! 88
Halt dich da raus! 90
Irritation: Keine Ängste, aber ganz tiefe Angst 93
Aufessen! 95
Verschwommene Identität 98
Beziehungen im Kriegszustand 102
Ehe ohne Liebe 103
Väter, die nicht mehr wegwollen 104
Kein Maß 107
Verstehen ist nicht verzeihen: das große UND 109

Wie Sie Erklärungen finden 114
Wie geht fragen? 116
Was tun, wenn die Gefragten schweigen? 119
Was tun, wenn die Gefragten nicht aufhören, vom Krieg zu erzählen? 123
Was tun, wenn die Menschen, die befragt werden sollen, nicht mehr leben? 127
Was tun, wenn alles diffus ist? 128
Wie Sie den Schritt beiseite schaffen 131
Allein oder mit Hilfe? 132
Den Rucksack entleeren 134
Buchstäblich beiseitetreten 138
Herangehen, um weggehen zu können 140
Der »Dreh« 142
Welche Farbe hat der Druck? 144
Die Ja-Nein-Bewegung 147
Die UND-Liste 149
Den Trotz und den stillen Ärger würdigen 150
Das Trennungsbild 152
Der Familienregenbogen 154
Den Kampf aufgeben 156
Der stillen und der lauten Trauer Raum geben 157
Das Tränenkrüglein 159

Wie Sie Ihre eigene Persönlichkeit würdigen 160
Der eigene Rucksack 161
Andere Vorbilder 162
Die drei Kostbarkeiten 163
Die Suche nach der Meinhaftigkeit 164
Würdigen, was ist: auch das am Wegesrand 166
Leitsätze statt Leidsätze 166
Zugreifen 168
Mein Boden 170
Aufrichten 171
Rückendeckung 172
Mein innerer Kern 174
Mein Ich-bin-ich-Buch 176
Vom Sinn des Eigen-Sinns 178

Antworten auf häufige Fragen – kurz und bündig 180
Was ist ein Trauma? 180
Warum wirken Traumafolgen so lange nach? 182
Wodurch werden die Traumata an die nächste Generation weitergegeben? 183
Täter? Opfer? Opfer/Täter? 185
Macht das krank? 187

Zitierte Literatur 189

Über die AutorInnen:

Udo Baer: Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Mitbegründer und Geschäftsführer der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Vorsitzender der Stiftung Würde und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Autor.

Gabriele Frick-Baer: Dr. phil. (Erziehungswissenschaften), Diplom-Pädagogin, Kreative Leibtherapeutin, Vorstandsmitglied der Stiftung Würde und wissenschaftliche Leitung der Kreativen Traumahilfe der Stiftung Würde, Kreative Traumatherapeutin, Therapeutische Leiterin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Autorin.

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