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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Hoffen auf den Weltmarkt

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Die Geschichte von Bernd Schmid aus Wiesloch hinter dem heutigen Adventskalendertürchen berichtet von seinen Erfahrungen als Coach und Organisationsberater in Russland, die noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen:

Wiener Kollegen hatten eine Einladung nach Leningrad, wie es damals noch hieß, und baten mich, mit zu kommen. Ich war völlig unerfahren bezüglich der Länder hinter dem „eisernen Vorhang“. Dieser begann sich gerade zu öffnen und Michael Gorbatschows Glasnost und Perestroika waren die Hoffnungsbegriffe in dieser Zeit. Für viele dort und auch für uns war es eine Zeit neuer Horizonte – und der Schwierigkeiten, diese einzuschätzen. Mitten im Januar also, bei nasskalten Schneewetter, besuchten wir ein Maschinenbau-Kombinat im heutigen Sankt Petersburg. Während einer Werksführung wurde uns gezeigt, wo mitten im Werksgelände die Front im Zweiten Weltkrieg verlaufen war. Die Deutschen hatten versucht die Leningrader auszuhungern, was unsägliche Leiden mit sich brachte. Geschichte plötzlich hautnah. Wir sahen uns unvermittelt einerseits als Nachfahren einer Täternation, andererseits richteten sich ausgerechnet auf uns Hoffnungen, irgendwie mit dem Kapitalismus  zurecht zu kommen. Im ersten ausgebrachten Toast des Generaldirektors kam dies so Ausdruck: “Wir sind bereit uns große Mühe zu geben und wollen dem Weltmarkt entgegenkommen. Wir hoffen und wünschen, dass  der Weltmarkt auch uns entgegenkommt”. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr mich das russische Sentiment anrühren konnte. Umso schmerzlicher, dass wir natürlich zur erwarteten Brüderlichkeit auf dem Weltmarkt nichts beitragen konnten.
Später haben wir dann für viele Jahre ein Maschinenbauunternehmen in Orsk im Süduralgebiet begleitet. Management Seminare für das Direktorium, Unterstützung und Beratung im Bereich beruflicher Bildung und im Kindergarten Bereich. Man verstand, wie umfassend die anstehenden Umwälzungen sein würden. Die Menschen, die uns dort als Partner gegenüberstanden, waren bislang überzeugte Kommunisten gewesen. Jetzt mussten sie eine neue Orientierung finden. Und ihrer Mentalität entsprechend, suchten sie zunächst Kontakt zum Mitmenschen im Partner, um über Vertrauen entscheiden zu können. Begegnungen, für die uns systemische Ausbildungen wenig vorbereitet hatten. Zum Beispiel besuchte uns der Leiter der dortigen Handelsschule nach den Seminaren spät abends in unserem Quartier. Er stellte einen Korb frischer Erdbeeren und eine große Flasche Wodka auf den Tisch und lud uns ein, mit ihm über Weltanschauungen zu sprechen. Ich erinnere mich nicht, was wir gesprochen haben, was auch damit zu tun hat, dass am Ende die Wodkaflasche leer war. Doch künftig war er für uns ein zuverlässiger Partner. Leider wurden viele damals hoffnungsvoll angegangene Entwicklungen durch kapitalistische Prozesse  innerhalb von Russland und ökonomische Machtergreifungen durch Oligarchen zunichte gemacht. Geblieben sind einige freundschaftliche Beziehungen und eben solche Erinnerungen.

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