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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Die Perspektive der „ganzen Person“. Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie

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J. Zwack & E. Nicolai (Hrsg.): Systemische Streifzüge

J. Zwack & E. Nicolai (Hrsg.):
Systemische Streifzüge

In den letzten Tagen ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein von Julika Zwack und Elisabeth Nicolai herausgegebener Band mit dem Titel „Systemische Streifzüge. Herausforderungen in Therapie und Beratung“ erschienen, der Jochen Schweitzer anlässlich seines 60. Geburtstages gewidmet ist. Im Vorwort der Herausgeberinnen heißt es dazu: „Gewidmet sind dieses Buch und die in ihm versammelten Beiträge Jochen Schweitzer. Wer ihn kennt, weiß, dass er in besonderer Weise die Vielfalt systemischen Arbeitens verkörpert und sich anwendungsorientierten Herausforderungen ebenso stellt, wie Fragen der Psychotherapiepolitik – und -forschung. Bei unseren eigenen professionellen Streifzügen war und ist uns Jochen Schweitzer ein inspirierender und ermutigender Begleiter. Wir sind gespannt, wohin ihn seine Streifzüge in den kommenden Jahren noch führen, und wünschen ihm hierfür die Beibehaltung seiner besonderen Neugier, Beharrlichkeit und Tatkraft.“ Freunde, KollegInnen und Weggefährten von Jochen Schweitzer tragen in einer Vielfalt von Beiträgen Standpunkte zu ganz unterschiedlichen Themen bei, eine Vielfalt, die der Vielfalt der vergangenen und aktuellen Interessen und Aktivitäten des Jubilars ausgesprochen gerecht wird. Beigesteuert haben die Texte Susanne Altmeyer, Eia Asen, Ulrike Borst, Andrea Ebbecke-Nohlen, Angelika Eck, Michaela Herchenhahn, Björn Enno Hermans, Christina Hunger-Schoppe, Tom Levold, Elisabeth Nicolai, Matthias Ochs, Mechthild Reinhard, Rüdiger Retzlaff, Wolf Ritscher, Wilhelm Rotthaus, Arist von Schlippe, Rainer Schwing, Fritz B. Simon, Julia Thom und Julika Zwack. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages kann an dieser Stelle mein eigener Beitrag zum Buch als eine Art „nachträglicher Vorabdruck“ erscheinen, der sich mit der Frage einer systemischen Ethik und der gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie befasst.

 

Tom Levold, Köln: Die Perspektive der „ganzen Person“. Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie (1)

„Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapieszene“?

Im Zuge der technischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Gange sind (vgl. Castells 2001), steht die globalisierte Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor dramatischen ökologischen, sozialen und geopolitischen Herausforderungen. Während die mit der Einführung der Schrift und des Buchdrucks vergleichbare Durchsetzung neuer Kommunikationsmassenmedien räumliche und zeitliche Distanzen aufhebt und damit den Weg in eine „Next Society“ (Baecker 2007) bahnt, wird das Konfliktpotential zwischen sozialen Gewinnern und Verlierern, arm und reich, ideologischen und geopolitischen Stakeholdern immer größer. Die traditionellen Politikprogramme kommen angesichts ihrer Komplexität mit solchen Konflikte nicht mehr zurecht: Nach dem Ende des kalten Krieges hat sich die Zahl der Konfliktthemen sowie der relevanten Akteure vervielfacht, die Dynamik wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, politischer und kriegerischer Auseinandersetzungen hat sich extrem beschleunigt und die Auswirkungen von Interventionen in diesen Bereichen sind strategisch kaum zu kontrollieren, da alle Akteure mit ihren relevanten Kommunikationen in Echtzeit aufeinander reagieren.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen bleiben den Menschen nicht äußerlich, sie greifen in massivem Umfang in die Struktur sowohl der privaten wie beruflichen zwischenmenschlichen Beziehungen ein und verändern zugleich die Identität der Individuen. Die Folgen dieser Veränderungen lassen sich tagaus, tagein in den unterschiedlichsten klinischen Settings beobachten und sind daher ein wichtiger Grund für Psychotherapeutinnen (2), sich intensiv mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Zudem unterliegen nicht nur die Lebenswelten der Klientinnen den genannten Veränderungen, sondern auch die organisatorischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Psychotherapeuten ihre Arbeit verrichten. Gerade für systemische Therapeuten, für die die Kontextualisierung von Wahrnehmungen und Verhaltensweisen von grundsätzlicher Bedeutung ist, müsste die Beschäftigung mit diesen Fragen daher selbstverständlich sein.
Im gegenwärtigen psychotherapeutische Diskurs hat die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen allerdings keinen besonders großen Stellenwert. Das gilt wie für alle anderen psychotherapeutischen Ausrichtungen auch für die Systemische Therapie. Man könnte mit Heiner Keupp auch von einer „weit verbreiteten Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapieszene“ sprechen (Keupp 2005, S. 142). Der Mainstream des therapeutische Diskurses kreist stattdessen um berufspolitische Themen und Abrechnungsfragen, um Fragen der Evidenzbasierung und Standardisierung, um neurobiologische Konzepte, Tools und Interventionstechniken. Die Thematisierung gesellschaftlicher Problemlagen ist im Vergleich dazu eher marginalisiert oder findet nicht statt.
Das war nicht immer so. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds etwa hat sich nie nur als Therapieform verstanden, sondern immer zugleich auch als Kulturtheorie. Dass das Individuum und sein Triebleben nicht frei sei, sondern durch gesellschaftliche Ansprüche und Vorgaben formiert, mitunter auch deformiert werde, war und ist ein klassischer psychoanalytischer Topos – ob man in Fragen des Anpassungsdrucks auf Seiten der Gesellschaft stand oder eher den emanzipatorischen Aspekt psychoanalytischer Aufklärung betonte, ergab sich hingegen nicht unmittelbar aus dem Theorierahmen, sondern hing in erster Linie von den politischen Präferenzen der jeweiligen Autoren ab. Nach dem Abklingen der gesellschaftskritischen Emphase der 60er und 70er Jahre hat ein gewisser Rückzug in behandlungstechnische Fragen stattgefunden. Der emanzipatorische Diskurs ist auch hier mittlerweile weitgehend Vergangenheit.
Was die systemtheoretische Reflexion gesellschaftlicher Prozesse betrifft, so stellt sich die Frage, ob sie mehr sein kann als ein reines Beobachtungsinstrument, d. h.ob und inwiefern sie über die Beobachtung und Beschreibung hinaus auch eine aktive, politisch und moralisch fundierte Haltung begründen kann: „Luhmanns Beobachten hat seinen eigenen, charakteristischen blinden Fleck. Es kann Handlungen beobachten und anderes Beobachten beobachten. Es versagt aber in allen Situationen, in denen selber gehandelt oder entschieden werden muß. Beobachten ist zwar ein tatsächlicher Vorgang, also zweifellos auch eine Handlung. Aber genau hier liegt das Problem. Denn das Beobachtungshandeln ist eine sehr eingeschränkte Form des Handelns. In vielen Situationen ist es geradezu eine unangemessene Form der Aktivität“ (Reese-Schäfer 1997, S. 587).
Vor diesem Hintergrund einer politischen Abstinenz der Systemtheorie erscheint es plausibel, dass Gesellschaft als historisch-sozialer Gesamtzusammenhang in der Literatur der systemischen Therapie meist nur als Kontext für das Verständnis der jeweils beobachteten Systeme wahrgenommen wird, selten aber als Feld für eigenes politisches Handeln. In diesem Text soll es daher um die Frage gehen, welchen Stellenwert Psychotherapie im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie hat, welche politischen und moralischen Implikationen damit verbunden sind und welche Wertorientierungen Psychotherapeutinnen in den öffentlichen Diskursen der Gegenwart vertreten können und sollten.

Der gesellschaftliche Standort psychosozialer Hilfen

Die aktuellen Diskurse innerhalb der systemischen Sozialarbeitswissenschaft diskutieren diese Fragen etwas intensiver (vgl. z. B. Hafen 2013; Hosemann u. Geiling 2013; Kleve 2003, 2010, 2011; Wirth 2005). Hier wird nicht nur versucht, den gesellschaftlichen Standort psychosozialer Hilfen mit systemtheoretischen Instrumenten zu ermitteln, sondern auch die damit verbundenen ethischen und normativen Fragen zu rekonstruieren. Wozu Hilfe? Wer ist hilfebedürftig? Wie gestaltet sich die triadische Auftragskonstellation zwischen Klienten, Helfern und gesellschaftlichen Institutionen? Auf wessen Seite stehen Helfer im möglichen Konflikt zwischen Klienteninteressen und Anforderungen seitens anderer gesellschaftlicher Akteure?
Auch wenn sich von der historischen Entwicklung, der Auftragslage, Methoden und Haltungen her klare Unterschiede benennen lassen, lassen sich manche Beiträge zum Diskurs der sozialen Arbeit ohne Weiteres in Bezug zur Psychotherapie setzen. Die Gemeinsamkeit beider liegt darin, dass sie als Funktionssysteme der Gesellschaft Hilfen für Personen zur Verfügung zu stellen, deren Teilhabe (Inklusion) an gesellschaftlicher Kommunikation problematisch erscheint, bedroht ist oder gar nicht mehr existiert. In dem Maße, in dem es Personen nicht gelingt, durch ihre Handlungen und Kommunikationen anschlussfähig für die unterschiedlichen Funktionssysteme zu bleiben (etwa durch Verlust der Zahlungsfähigkeit, abweichendes Verhalten, Lernverweigerung, Krankheit, fehlende Kommunikationsbereitschaft oder -kompetenz usw.), fallen sie aus den entsprechenden Funktionssystemen heraus, sie werden exkludiert.
In den vergangenen 30 Jahren hat weltweit eine radikale, auf neoliberalen Konzepten basierende Umgestaltung der entwickelten Industrieländer stattgefunden, die mit einem Abbau sozialstaatlicher Leistungen einhergeht und seit der Finanzkrise 2008 in ihrer Eigendynamik massiv beschleunigt wurde. Was Exklusion bedeutet, lässt sich gegenwärtig bei den europäischen Mittelmeerstaaten besichtigen. Auch in Deutschland öffnet sich die Schere von wachsendem privaten Reichtum einerseits und zunehmender Verarmung nennenswerter Bevölkerungsteile andererseits immer weiter. Diese Entwicklung geht mit einer ungeheuren Verschuldung und Unterfinanzierung öffentlicher Haushalte einher, die den Mangel an Einkommen, bezahlbaren Wohnraum, Bildung und gesundheitlicher Versorgung nicht kompensieren können.
Die neoliberalen Diskurse, die diesen Veränderungen zugrunde liegen und sie legitimatorisch unterfüttern, sind keine freischwebenden Konstruktionen, sondern haben ihre Basis in konkreten gesellschaftlichen Verteilungskämpfen, in spezifischen Interessenlagen und Machtverhältnissen, einem Thema, dass im Systemischen Diskurs bislang zuwenig Bedeutung erhalten hat (vgl. Levold 1986; Levold 2001, 2011).
Während sich die Klientel der Sozialen Arbeit und der Psychiatrie zunehmend aus diesen von Exklusion bedrohten oder schon betroffenen Bevölkerungsgruppen rekrutiert, finden sich in psychotherapeutischen Praxen und Kliniken viele Klienten, die noch nicht aus den Funktionssystemen herausgefallen sind, mit dem zunehmenden Stress spätmoderner Lebenswelten und dem Leistungs- und Erfolgsdruck des gegenwärtigen Arbeitslebens aber nicht mehr zurecht kommen. Die Überlastung durch und das Leiden an der Beschleunigung aller Tätigkeiten hat im Konzept des Burnout eine angemessene Metapher gefunden.
Ich bin in meiner eigenen Praxis als Supervisor in zahlreichen psychosozialen und klinischen Einrichtungen der Jugendhilfe und des Gesundheitswesens täglich mit sich verschlechternden Bedingungen konfrontiert, die mich wütend machen und kämpferisch stimmen. Ich werde Zeuge von zunehmender Ressourcenvernichtung und wachsenden Arbeitsbelastungen, die sowohl die Helfer als auch ihre Klienten betreffen.
Es verwundert daher nicht, wenn Organisationen und Professionelle aus den unterschiedlichen Hilfesystemen diese Entwicklungen massiv kritisieren. Dabei spielen unterschiedliche Argumentationsstränge eine Rolle. Auch wenn die „sozialen“ und „politischen“, d.h. volkswirtschaftlichen Kosten zunehmender Exklusion zentrale Gesichtspunkte des gesellschaftskritischen Diskurses darstellen, ist die Gesellschaftskritik aus den Reihen der professionellen Praktiker meist eine ethisch-moralische: Sie reflektiert und skandalisiert die (schädlichen) Auswirkungen dieser Entwicklungen primär aus der Perspektive der Entwicklungschancen und des Wohlergehens ihrer Klienten.
Dafür gibt es viele gute Gründe. Auch wenn – wie wir sehen werden – moralische Argumente gerade aus einer psychotherapeutischen Perspektive von Bedeutung sind, wird die Komplexität und Ambivalent der gesellschaftlichen Verhältnisse zu wenig in Rechnung gestellt, wenn die geschilderten Entwicklungen vorschnell als ein rein moralisches Problem codiert werden.

Individuum und Gesellschaft

Die eingangs erwähnte Darstellung des Verhältnisses von Individuum bzw. Subjekt und Gesellschaft als eines Unterdrückungszusammenhangs und die damit verbundene emanzipatorische Idee der Befreiung des Subjekts von seinen gesellschaftlichen Fesseln ist nicht nur historisch gescheitert, sondern von einer systemischen Perspektive aus betrachtet auch theoretisch wenig tragfähig.
Wenn man sich verdeutlicht, dass es sich sowohl beim unterdrückten wie beim befreiten Individuum um soziale Konstruktionen handelt, die immer schon selbst Bestandteil von Gesellschaft sind, kann der Dualismus von Individuum und Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden. Da Gesellschaft nichts anderes als der Gesamtzusammenhang sozialer Kommunikation ist (Luhmann 1997), taugt sie nicht als Gegenbegriff zur individuellen Freiheit. Auch wenn damit nicht die Frage obsolet wird, ob und welche beobachtbaren sozialen Phänomene zu Recht als Unterdrückung bezeichnet werden können, taugt „die Gesellschaft“ nicht als dafür zu Rechenschaft zu ziehender Akteur.
Selbst Michel Foucault, der einen kritischeren Blick auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wirft als Luhmann, versteht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht als Dualismus, sondern als einen unentrinnbaren Gesamtzusammenhang. Sein Konzept der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2005) verdeutlicht die enge Verschränkung von Herrschaft einerseits und einem impliziten wie expliziten Einverständnis der Beherrschten andererseits, die sich innerhalb und mithilfe eines komplexes Netzes aus Diskursen, verkörperlichtem Wissen, Institutionen und Praktiken vollzieht, aus dem sich die Individuen nicht ohne weiteres verabschieden können. Diese Form des Beherrschtseins geht paradoxerweise einher mit der Tatsache, dass zumindest in den postindustriellen Gesellschaften „die emanzipatorischen Ideale der bürgerlichen Moderne des 20. Jahrhunderts formell eingelöst (sind). Für Foucault gilt das Subjekt deswegen als weitaus freier in seinen Möglichkeiten, als es meint“ (Aßmann 2006, S. 89).
Aus dieser Perspektive ist es gerade das Programm der Steigerung von Freiheit, welches soziale Asymmetrien erzeugt. Wir haben es hier mit einer Paradoxie der Freiheit zu tun, die sich nicht mehr ohne Weiteres nach einer Seite hin auflösen lässt. Indem die klassischen kollektiven Sinnsysteme der Vormoderne und Moderne ihre Autorität und ihren Zugriff auf die Lebenspraxis der Menschen immer mehr verlieren, sind diese frei, sich die Rationalität ihrer Lebensentwürfe selbst zurecht zu zimmern. Das ist unter dem Epochenbegriff der Postmoderne zu verstehen. Damit einher geht die Tendenz zur immer weiteren „Vermarktung“ der Lebenswelten. „Der ideologische Rahmen ist der Neoliberalismus, bei dem es keine kollektiven, sondern nur Einzelbedürfnisse gibt. Es erfolgt eine Ökonomisierung des Sozialen: … es zählen nur noch die Zwecke, die sich in Geld berechnen lassen, d. h. es erfolgt eine Monetarisierung der Zwecke“ (Pfeifer-Schaupp 2006, S. 102). Damit wird die vom klassischen Liberalismus unterstellte „natürliche Freiheit“ des Menschen von Herrschaft und Unterdrückung zwanglos durch die unternehmerische Freiheit der ökonomisch-rationalen Individuen ersetzt (Bröckling 2007; Höhne). Das Programm der Steigerung von Freiheit im Sinne einer Freisetzung des Menschen aus übergeordneten sozialen Bezügen und Sinnzusammenhängen ist eng verknüpft mit den zunehmenden Risiken sozialer Desintegration. Da sich gesellschaftliche Integration nicht mehr über große Gesellschaftsentwürfe, die auch in ihren nicht-totalitären Varianten das Maß individueller Freiheit reduzieren, sondern immer mehr über die Teilnahme der Individuen an unterschiedlichen Märkten und Funktionssystemen realisiert, liegt der Sinn des Handelns nurmehr in der freien Erzeugung und Vermehrung des eigenen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals, das auf den Märkten der Arbeit, des Konsums, des Kapitals und der Aufmerksamkeit eingesetzt werden kann. Wer kein entsprechendes Kapital vorzuweisen hat, fällt schnell aus dem sozialen Zusammenhang heraus. Die individuellen und letztlich auch sozialen Kosten dieser zunehmenden Exklusion von Lebenswelten aus der Gesellschaft sind noch nicht wirklich absehbar. Die Risiken der Individuen liegen also weniger in ihrer Unfreiheit als in ihrem individuellen Konkurs als Marktteilnehmer und dem damit verbundenen Ausschluss von sozialen Möglichkeiten. Wir haben es – zugespitzt – mit einem Spannungsfeld von Freiheit und Desintegration auf der einen und Unfreiheit und Integration auf der anderen Seite zu tun, das die Frage nach orientierenden Werten, die uns auch in der psychotherapeutischen Praxis helfen könnten, nicht gerade leicht macht.
Eindeutigkeit bei der Beantwortung dieser Frage ist ohnehin nicht mehr zu haben. Wie Heiko Kleve im Anschluss an Zygmund Baumann, Wolfgang Welsch und Jacques Derrida herausarbeitet, ist das Hauptmerkmal des gesellschaftlichen Feldes, auf das sich Sozialarbeit und Psychotherapie als Funktionssysteme mit dem Auftrag psychosozialer Hilfe beziehen, dessen Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, die grundsätzlich nicht mehr überwunden werden können: „Mit Ambivalenz wollen wir nun ganz allgemein nicht nur Zwei-, sondern Mehr- bzw. Vieldeutigkeiten, also Uneindeutigkeiten, Unbestimmbarkeiten, Widersprüchlichkeiten oder auch Paradoxien in psychischen, sozialen bzw. kommunikativen Verhältnissen sowie in deren Beobachtung bezeichnen, die, wenn sie konstatiert werden, ein unentscheidbares Oszillieren zwischen mindestens zwei differenzierten, heterogenen, aber gleichermaßen plausiblen Entscheidungsmöglichkeiten herausfordern. Eine ambivalente Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Beobachtung einer Situation, eines Ereignisses, einer Handlung, einer gesellschaftlichen Praxis zwei oder mehr gegensätzliche, sich widersprechende Blickpunkte, Beobachtungen bzw. Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen gleichermaßen plausibel erscheinen“ (Kleve 1999, S. 22 f.).
Akzeptiert man diese Prämisse, muss man auf die Festlegung von allgemeinverbindlichen Orientierungspunkten verzichten. An deren Stelle treten das Konzept der Differenz und der praktische Umgang mit Differenzen in den Vordergrund, und zwar als positive Begrifflichkeiten. Ambivalenzen „zwischen Ganzheit und Differenz, Berufsarbeit und Nächstenliebe, Hilfe und Nichthilfe, Hilfe und Kontrolle, … Integration und Desintegration, … Problem und Lösung, … Ethik und Pragmatik“ stellen sich also weniger als aufzulösende Probleme dar, sondern als Ausgangspunkt und Chance einer erfolgreichen Handhabung von Differenzen: „Menschen sind Ambivalenzmanager, Sozialarbeiter (und Psychotherapeuten, TL) unterstützen sie, dies erfolgreich zu sein“ (Kühling 2006, S. 138). Dabei kann auf unterschiedliche Weisen mit Differenzen umgegangen werden. Kühling nennt als mögliche Varianten Differenzbeobachtung, Differenzminimierung, Differenzakzeptanz oder gar Differenzmaximierung als gezielte Hervorbringung von Unterschieden, die Unterschiede machen (ebd., S. 139).
Freilich löst Differenzhandhabung das Leiden an Konflikten und Differenzen nicht auf. So weist Wolfgang Krieger zu Recht darauf hin, dass sich ein beträchtlicher Teil des Leidens der Subjekte den Konflikten zwischen nach wie vor wirksamen Idealen der Moderne (z.B. das Recht auf wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsgarantien usw.) und den sozialen Realitäten postmoderner Gesellschaften verdankt. Er beobachtet „dass die postmoderne gesellschaftliche Realität die Subjekte zum einen zunehmend den Risiken der Lebensführung überlässt und sie zum anderen zugleich immer weniger mit Kompetenzen der Ambivalenzbewältigung ausstattet“ (Krieger 2006, S. 106). Sie schwäche damit nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern gerade auch die Akzeptanz von Pluralität und führe zu fundamentalistischen „Rückbesinnungen“ (ebd.): „In dem Maße, in dem flexibilisierte Gesellschaften die Anpassungsfähigkeit ihrer Bürger überfordern …, und zugleich nicht dafür Sorge tragen, dass die Entwicklung von Bewältigungskompetenzen ausreichend gefördert wird, bringen sie eine Ziel-Mittel-Diskrepanz hervor, die nicht nur ihre eigene Leistungsfähigkeit (nach innen und außen) in Frage stellt, sondern auch mehr und mehr Bürger vom gesellschaftlichen Produktionsprozess und von kultureller Teilhabe ausschließt“ (ebd., S. 107).
Aus dieser Perspektive bedeutet Anpassung nicht in erster Linie Unterwerfung unter die Herrschaft vorgegebener Normen und Sinnsysteme, sondern stellt eine Voraussetzung für die Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation in den einzelnen Funktionssystemen dar. Dauerhafte Nicht-Anpassung führt ab einem gewissen Grad mehr oder weniger zwangsläufig zur Exklusion der Nicht-Angepassten.
Das Problem liegt aus dieser Perspektive also weniger in der Tatsache der Anpassungsnotwendigkeit selbst als darin, dass die mangelnde Förderung von Bewältigungskompetenzen im Zusammenhang mit der sich rapide beschleunigenden Eigendynamik der Gesellschaftsentwicklung zu einem Riss in der Gesellschaft führt. Momentan können wir beobachten, dass der Riss größer wird. Die Frage aber, inwiefern dieser Riss behoben werden kann, scheint innerhalb der dominanten Funktionssysteme der Gesellschaft selbst nicht mehr beantwortbar zu sein, alle diesbezüglichen Diskurse sind ebenfalls hoch ambivalent. In der Regel wird daher die Bearbeitung dieser Frage an die Funktionssysteme der Sozialarbeit und Psychotherapie delegiert, was uns zum Thema der Funktion dieser Hilfesysteme führt.

Funktionale Differenzierung und Psychotherapie als ein besonderes Funktionssystem

Kernpunkt der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns ist die Theorie der funktionalen Differenzierung (für die nachfolgenden Ausführungen siehe ausführlich: Luhmann 1997). Darunter ist die Gliederung der Gesellschaft in verschiedene, weitgehend autonome Teilsysteme gemeint, wie z.B. Wirtschaft, Recht, Politik, Religion oder Wissenschaft. Diese Art der Differenzierung, die das Bild moderner und postmoderner Gesellschaften prägt, unterscheidet sich von vormodernen Formen der Differenzierung nach Clans in Stammesgesellschaften, nach Ständen im Feudalismus oder nach Klassen im aufsteigenden Industrialismus. Die Funktionssysteme sind füreinander Umwelt, so wie auch Menschen nicht Bestandteil dieser Funktionssysteme sind, sondern ihrer Umwelt zugerechnet werden. Für die Funktionssysteme sind also nur spezifizierte Handlungen und Kommunikationen der Menschen von Belang, letztere sind austauschbar und daher nicht als „ganze Personen“ relevant.
Um die jeweils relevanten kommunikativen Beiträge als Operationen eines bestimmten Funktionssystem identifizieren zu können, postuliert Luhmann für jedes Funktionssystem einen spezifischen „binären Code“, mit dessen Hilfe geregelt wird, welche Operationen im System anschlussfähig werden (z.B. Geld-Zahlungen in der Wirtschaft) und welche nicht zum System gehören (z.B. unbezahlte Liebesdienste). Im Wirtschaftssystem geht es also um Zahlung/Nicht-Zahlung, in der Wissenschaft um Wahrheit/Unwahrheit-Codierungen, im Rechtssystem um Recht/Unrecht-Codierungen usw. Kommunikationen, die nicht über Zahlung oder Nicht-Zahlung vermittelt sind, sind aus der Perspektive des Wirtschaftssystems zunächst irrelevant. Ein Mensch ohne Geld, ohne Schulden oder ohne Girokonto existiert als Adressat des Funktionssystems Wirtschaft nicht. Komplexe Kommunikationsstrukturen mit einer Vielzahl von Themen (etwa Entscheidungsprozesse mit ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und ökologischen Implikationen) können daher gleichzeitig anschlussfähig an unterschiedliche Funktionssysteme sein, ohne dass diese jeweils aufeinander direkt zugreifen könnten.
Die Zugehörigkeit von Kommunikationen zu Funktionssystemen wird über deren Codes festgelegt, Wertfragen, ethische Prämissen und moralische Prinzipien sind ihnen daher äußerlich. Ob eine ökonomische Transaktion für einen guten oder schlechten Zweck durchgeführt wird, ändert nichts an ihrer Zugehörigkeit zum Wirtschaftssystem. Dennoch reagieren die Funktionssysteme natürlich auf Moral als systemübergreifendes Phänomen, gewissermaßen als Supercode. Da das Leiden an Armut und Exklusion, die Empörung über Ungleichverteilung wirtschaftlichen Reichtums und die Skandalisierung der Ausbeutung von Arbeitskräften aus dieser Perspektive nur in der Umwelt des Funktionssystems Wirtschaft stattfindet, müssen sie durch eine entsprechende Codierung in das System hineingenommen werden, um sie dort handhabbar zu machen – etwa indem die „politischen Kosten“ einer solchen Empörung (z. B. von Arbeitsausfällen durch Streik oder Krankheiten) berechnet und in die Kalkulation wirtschaftlichen Handelns einbezogen werden.
Die Funktionssysteme sind also ethisch blind, sie erzeugen aus sich heraus keine ethischen Maßstäbe für ihre Operationen. Das gilt selbst für das Rechtssystem, das zwar die Regulierung normativer Erwartungen zur Aufgabe hat, aber selbst keine Wertorientierung hervorbringt, sondern nur die verfahrensgerechte, legalitätsorientierte Abarbeitung normativer Problemlagen und Entscheidungen gewährleistet. Die Politik ist zwar moralsensitiver als andere Funktionssysteme, aber nur insoweit, als moralische Themen über die Codierung Macht/Nicht-Macht Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen und damit wahlentscheidend sein können (z. B. Kampagnen sozialer Bewegungen, die im Ergebnis zu legislativen Entscheidungen führen). Die operative Bearbeitung moralischer Themen in der Politik folgt dann allerdings strikt den Machtimperativen des politischen Systems. „Kurz: die über binäre Eigencodierungen gesicherte Autonomie der Funktionssysteme schließt eine Metaregulierung durch einen moralischen Supercode aus (…) Die höhere Amoralität der Funktionscodes wird von der Moral selbst anerkannt; aber daraus folgt auch der Verzicht auf die Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft“ (ebd., S. 1043).
Im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformen ist die funktional differenzierte Gesellschaft also nicht mehr durch Religion oder Moral zu integrieren. Moral wird vielmehr zur Umwelt aller Funktionssysteme, ihr Code trennt sich vom Rechtscode, vom Wissenschaftscode und auch vom Religionscode, was für Luhmann die Funktionsfähigkeit der Teilsysteme erst sicherstellt.
Während dieser Sachverhalt aus der Perspektive einer moralischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen selbst schon Anlass für Kritik darstellt, wird die Entkoppelung von Moral und Funktionssystemen von Luhmann positiv eingeschätzt, da moralische Kommunikation für ihn dazu tendiert, zu vermeidende Konflikte zu erzeugen anstatt Konsens herzustellen. Dennoch gesteht er Moral und Ethik die Funktion zu, den Codegebrauch der Funktionssysteme zu begrenzen und gewissermaßen als gesellschaftliches Alarmsystem zu fungieren, welches Problemen über die Grenzen der Funktionssysteme hinweg einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation zugänglich macht.
Ein für den Bereich der Psychotherapie ganz wesentlicher Aspekt moralischer Kommunikation wird von Luhmann wie folgt beschrieben: „Moralische Kommunikation zeichnet sich vor anderen Kommunikationsweisen nicht dadurch aus, daß sie auf eine bestimmte Sorte von Regeln oder Maximen oder Prinzipien bezugnimmt, die sich als moralische (oder: sittliche) von anderen, zum Beispiel von rechtlichen unterscheiden. Eine solche, wechselseitig exklusive Abgrenzung ist, gerade auch für das Recht, undurchführbar. Moral ist, anders gesagt, nicht etwa angewandte Ethik. Vielmehr gewinnt sie ihr Medium durch Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst und andere achten bzw. mißachten. Die Möglichkeit, Achtung bzw. Mißachtung in Anspruch zu nehmen bzw. zum Ausdruck zu bringen, ist hoch diffus verfügbar. Die Form dieses Mediums grenzt sich nur dadurch ab, daß es nicht um Anerkennung von besonderen Fertigkeiten oder Leistungen von Spezialisten geht, sondern um Inklusion von Personen schlechthin in die gesellschaftliche Kommunikation“ (ebd., S. 397).
Hier kommt der spezifische Beitrag von Psychotherapie und Sozialarbeit ins Spiel! Da die Funktionssysteme als solche nicht die „Personen schlechthin“ adressieren, sondern nur als Geldbesitzer, Rechteinhaber etc., können Fragen der Regulierung von sozialer Achtung nicht ihre Aufgabe sein. Entscheidend für sie ist ausschließlich, inwiefern die systemspezifischen Codes von den Personen bedient werden können. Die Schüler werden in erster Linie entlang der Unterscheidung Wissen/Nicht-Wissen beurteilt, der Staatsbürger entlang der Differenz von Recht/Unrecht, der Kunde nach zahlungfähig/zahlungsunfähig usw. Wer nichts weiß, muss von der Schule, wer Unrecht begeht, wird bestraft, wer nicht zahlt, kann nicht am Wirtschaftsleben teilnehmen etc.
Probleme, die sich daraus für die Betroffenen ergeben, sind für die Funktionssysteme Umweltfaktoren. „Die Gesellschaft exportiert ihre Irritationen auch in ihre personalen Umwelten. Die Folgen dieses Irritationsexports bekommen Psychotherapeuten (und andere Professionen) zu Gesicht. Als Gesellschaftsmitglieder werden Personen gewissermaßen in ihre Funktionssystem-Mitgliedschaften zerlegt; außerhalb der Funktionssysteme aber existieren sie als ,individualisierte Personen’. Als solche sind sie in die Funktionssysteme deshalb nicht inkludierbar, weil dort die Zumutungen an das, was für vernünftig ausgewiesen wird, sich geändert haben. Was exportiert wird, ist systemdysfunktionale Unvernunft“ (Buchholz 1999, S. 146 f.).
In Differenz zu einer ontologisierenden Perspektive auf „den Menschen“ verwende ich hier das Konzept der „ganzen Person“ als Adressat für psychosoziale Hilfeleistungen. Als soziologische Kategorie ist eine Person als Komplex von Zuschreibungen zu verstehen, welche die Bildung und die Regulierung von Erwartungen in sozialen Beziehungen ermöglichen. Die Person ist also keine ontologische Kategorie, sondern zunächst eine Adresse für Kommunikation. Sie ist ein Ensemble sozialer Zuschreibungen und Erwartungen, welche nicht nur „von außen“ beobachtet und gehandhabt werden, sondern auch im Laufe von familialen, schulischen und berufsbezogenen Sozialisationsprozessen so in die Eigenwahrnehmung aufgenommen und integriert werden, dass sie einen Kern erlebter Identität darstellen.
Therapeutische Konversationen als Kommunikationssystem und damit alle Formen der Selbstäußerung, seien sie auch noch so emotional und spontan, sind immer schon sozial formatiert. Wir präsentieren uns in jeder sozialen Situation als Personen mit einer bestimmten Geschichte und einem bestimmten Habitus, der selbst durch unsere Geschichte sozial geformt ist. „Das Bewusstsein, eine Person zu sein, gibt dem psychischen System für den Normalfall das soziale o.k.; und für den abweichenden Fall die Form einer im System noch handhabbaren Irritation“ (Luhmann 1995, S. 154).
Die ganze Person stellt für die Funktionssysteme der Gesellschaft eine prinzipielle Irritation dar. Buchholz zeigt, dass „Psychotherapie als Profession eine spezifische Systemleistung universalisiert, also Irritationsbewältigung für die Gesellschaft in einer Weise erbringt, die von keinem anderen Funktionssystem erbracht wird und werden kann“ (Buchholz 1999, S. 125). Der Export der Irrationalität aus den Funktionssystemen betrifft immer die ganze Person „und die soziale Kontrolle von deren Abweichungen ebenfalls“ (ebd., S. 147), d.h. man kann sich nur als ganze Person einer Psychotherapie unterziehen, sich in der Psychiatrie oder im Gefängnis aufhalten, nicht aber bloß mit bestimmten funktionsspezifischen Verhaltensweisen. „Die Existenz ,ganzer Personen’ und deren ,Unvernunft’, die als solche aus Funktionssystemen exkludiert wurden, sind somit jenes Kernproblem, um das herum sich autokatalytisch“ u.a. die Funktionssysteme der Psychotherapie und Sozialarbeit herausgebildet haben (ebd., S. 1478).
Die Systemlogiken dieser Hilfesysteme unterscheiden sich insofern deutlich von der Logik anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, als sie die Person nicht in ihre funktionsspezifischen Kommunikationen „zerlegen“, sondern als ganze Personen adressieren. Damit ähnelt die Kommunikationsstruktur von Psychotherapie und Sozialer Arbeit derjenigen von Intimbeziehungen, in denen die „Höchstrelevanz“ der Person ebenfalls das zentrale Strukturmerkmal darstellt (auch wenn diese Struktur im Unterschied zu letzteren radikal asymmetrisch angelegt ist).

Die Perspektive der „ganzen Person“ als Bezugspunkt therapeutischer Ethik

Als Therapeuten ist uns selbstverständlich, dass Personen gerade in ihrer Individualität sozial anerkannt sein müssen, um überhaupt überleben zu können. Der ganze Bereich der primären Sozialisation, das Familienleben sowie Freundschafts- und Liebesbeziehungen sind auf dieser Anerkennung aufgebaut, der Zugang zu den gesellschaftlichen und mit einer anderen Logik ausgestatteten Funktionssystemen erfolgt erst später und schrittweise. In vormodernen Zeiten gehörten die Menschen als ganze Personen zu ihren sozialen Gemeinschaften und Bezugssystemen, auch die Dummen und Irren, Kranken und Behinderten. Im Zuge der funktionalen Differenzierung sind die Personen als solche immer weniger von Bedeutung.
Nimm man die Orientierung an der ganzen Person als zentrales Merkmal von Psychotherapie und Sozialer Arbeit zum Ausgangspunkt, zeigt sich, dass die Beobachtung der Gesellschaft aus der Perspektive psychosozialer Hilfen eine moralische Perspektive auf die Bedingungen der notwendigen Achtung von Menschen als ganzer Person geradezu erzwingt, für die die Inklusion in die unterschiedlichen sozialen Systeme konstitutiv ist.
Erst aus dieser Perspektive kann überhaupt die Parteinahme für das Individuum gegen die Ansprüche der Funktionssysteme evident werden. Der gesellschaftliche Stellenwert von Hilfesystemen ergibt sich also daraus, dass den Funktionssystemen etwas abgenommen wird, was diese nicht zu leisten vermögen. Gleichzeitig wird der Erfolg der Hilfe aber daran gemessen, ob die Person auch wieder in die Lage kommt, ihre gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Mit Wolfgang Krieger lässt sich sagen, dass sich damit in „Identitäts-, Motiv- und Handlungskonflikten der Klientel … die Ambivalenzkonflikte postmoderner Gesellschaften ebenso (widerspiegeln) wie in den Doppelbotschaften des gesellschaftlichen Auftrags“ von Sozialer Arbeit und Psychotherapie, nämlich „die Schrecken der Desintegration in Schach zu halten und zugleich dem Menschlichen zu dienen“ (Krieger 2006, S. 109).
Moralische Kommunikation, die im wesentlichen auf wertebezogener Achtung und Missachtung beruht, ist sowohl auf Inklusion wie auf Exklusion angelegt: moralische Zustimmung sichert Zugehörigkeit, Nicht-Zustimmung führt zum Ausschluss aus der Wertegemeinschaft. Wenn auf die „Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft“ (Luhmann 1997, S. 1043) verzichtet werden muss, weil es außerhalb der Gesellschaft nichts gibt, gegen das sich diese moralisch abgrenzen könnte, geraten moralische Diskurse schnell in Schwierigkeiten. Innerhalb der Gesellschaft ist eine Zunahme von Wertekonflikten zu beobachten, die selbst kein Rüstzeug für ihre Lösung beinhalten: „Werte enthalten keine Regel für den Fall des Konfliktes zwischen Werten. Es gibt, wie oft gesagt, keine transitive oder hierarchische Ordnung der Werte“ (ebd., S. 799). Und: „Je mehr Werte, desto weniger ist ihnen zu entnehmen, wie zu entscheiden ist“ (ebd., S. 800).
Gleichwohl kommen wir nicht ohne Werte aus. Ohne Werte wären wir nicht nur außerstande, unser Handeln konsistent zu orientieren, wir hätten wohl auch Schwierigkeiten, unsere Wahrnehmung zu organisieren. George Spencer-Brown formuliert gleich zu Beginn seiner „Gesetze der Form“: „Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert angesehen werden“ (Spencer Brown 1997, S. 1). Schon die basalen Operationen einer Unterscheidung setzen bereits eine Wertsetzung voraus.
Mit einem Ambivalenzen zulassenden differenztheoretischen Konzept müssen wir akzeptieren, dass die Zahl der Möglichkeiten auch in Bezug auf die Geltendmachung von Werten groß ist und jederzeit gesteigert werden kann. Daraus lässt sich aber andererseits auch nicht – wie man vielleicht vorschnell vermuten könnte – eine Beliebigkeit von Werten ableiten. Das Ergebnis wäre allenfalls eine zynische und keine ethische Haltung. Jedes – insbesondere professionelles – Handeln muss Werte als Orientierungsrahmen zur Verfügung haben. Als systemische Therapeuten müssen wir uns also Gedanken machen, welche Werte unsere gesellschaftliche Funktion besonders sinnhaft zum Ausdruck bringen. Ich glaube nicht, dass es der Widerstand gegen die gesellschaftlichen dominanten Diskurse ist, der als Integrationswert für unsere systemische Zunft taugt. Es ist nicht anders als bei der Psychoanalyse: wer mit dieser Gesellschaft im Reinen ist, wird die Anpassungsseite aus weltanschaulichen oder pragmatischen Gründen Anpassung vertreten können, wem sie ein Gräuel ist, wird genauso plausibel in der Anpassung ein Instrument der Unterdrückung erblicken können.
Stattdessen könnte der Fokus, der uns von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen unterscheidet, vielleicht einen Hinweis auf eine mögliche gemeinsame Wertorientierung sowohl im Umgang mit Klienten als in Hinblick auf die Beobachtung der Gesellschaft bieten. Der Fokus auf die ganze Person erfordert nämlich eine entsprechende Wertorientierung. Die Unverletzbarkeit der körperlichen Integrität, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, das Recht auf Entwicklung, Nahrung und Bildung, das Streben nach Liebe und Glück, das Recht auf Teilhabe an Kommunikation und Gesellschaft, all diese Werte erfordern, dass man den Bezug auf die Person, d.h. den Menschen als soziales Wesen und soziale Adresse herstellt und aufrechterhält. Das Wirtschaftssystem kann als solches mit Menschenrechten solange nichts anfangen, bis es zu teuer wird, sie zu missachten. Das Rechtssystem mag zwar in der Person nach mildernden Umständen suchen, es interessiert sich aber vorrangig für die Unrechtmäßigkeit ihrer Taten. Das Schulsystem erwartet von der Person den motivationalen Input als Gleitmittel für die Realisierung der Systemleistung, die Schulabschluss heißt. In allen diesen Fällen ist die Person Umwelt, die allenfalls in Rechnung gestellt werden muss. Als Psychotherapeuten haben wir es eben nicht bloß mit psychischen Systemen zu tun, in deren Umwelt Person vorkommt, sondern mit ganzen Personen, die sich selbst leiblich, geistig und seelisch als Personen erleben und adressieren.
Der daraus resultierende Respekt vor der Person kann uns helfen, das „dominante Gerede“ in der Gesellschaft daraufhin zu beobachten, wie sich Klienten dazu in Bezug setzen und handelnd orientieren. Sie dabei zu begleiten und ihnen unsere Beobachtungen auf methodisch kontrollierte Weise zur Verfügung zu stellen, ist unsere Aufgabe und Möglichkeit als Therapeuten, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Als Beobachter von Gesellschaft können wir aus dieser Perspektive eine Menge in den öffentlichen Diskursen darüber einbringen, welche Folgen es hat, wenn immer mehr Personen aus den relevanten Funktionssystemen herausfallen, wenn die Perspektive der Person immer weniger in den Funktionssystemen reflektiert wird, weil diese gerade hier ihre eigenen blinden Flecke haben.
Die enorme Karriere, die das Coaching als personenbezogene Beratungsleistung in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen hat, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass auch in der Wirtschaft gesehen wird, dass die Person als solche auch innerhalb des Funktionssystems repräsentiert sein muss, um sie als Umweltressource besser nutzen zu können. Die Perspektive auf die Person darf aber nicht auf die Unterstützung von sogenannten Leistungsträgern beschränkt sein. Sie hängt nicht von der Qualität oder dem Wert der Person ab, sondern muss sich selbst Bezugspunkt sein. Darin liegt die implizite Ethik psychotherapeutischen Handelns. Ob es hilfreich ist, sie im Sinne eines Wertekataloges zu explizieren, möchte ich offen lassen. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Heinz von Foerster, der zu diesem Thema gesagt hat: „Ich möchte Sprache und Handeln auf einem unterirdischen Fluss der Ethik schwimmen lassen und darauf achten, dass keines der beiden untergeht, so dass Ethik nicht explizit zu Wort kommt und Sprache nicht zur Moralpredigt degeneriert“ (Foerster 1993, S. 68 f.).

Literatur

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Anmerkungen

(1) Dieser Text beruht auf einem Diskussionsbeitrag für den Jubiläumskongress der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien (ÖAS), der 2006 in Wien stattfand. Thema der Diskussion war: „Blinde Flecke: Helfen wir unseren KlientInnen auch beim Widerstand?“ und ist im Internet unter http://www.systemagazin.de/beitraege/blinde_flecke/blinde_flecke_index.php dokumentiert.
(2) Der Anspruch einer gendersensitiven Schreibweise kommt in diesem Text durch einen freien Wechsel des Genus immer dort zum Ausdruck, wo durch den Text nicht eine eindeutige Verwendung erzwungen wird.

links

 

Das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort des Buches, in dem die einzelnen Beiträge skizziert werden, findet man hier als PDF

info

 

Julika Zwack, Elisabeth Nicolai (Hg.)
Systemische Streifzüge. Herausforderungen in Therapie und Beratung

1. Auflage 2014
342 Seiten, mit 13 Abb. und einer Tab., kartoniert

Preis:  29,99 € D / € 30,90 A / SFr 38,90

ISBN 978-3-525-40363-1

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2 Kommentare

  1. Ursula Böhm sagt:

    Wahrhaftig. Gut verständlich ausgedrückt, was mich, als Coach und Beraterin tagtäglich in der Arbeit mit Menschen beschäftigt. Auf Grund diesen Artikels habe ich jetzt auch erkannt, warum ich selbst immer wieder Ambivalenzen verspüre. Denn auch ich (als Individuum) befinde mich in entsprechenden Funktionssystemen und folglich hat dies auch Einfluß auf meine Arbeit. Sich dessen bewußt zu sein, macht noch einmal klar, dass die Auseinandersetzung mit sich selbst, als Coach unabdingbar ist und die Bewußtheit meines eigenen Standpunkts (als Caoch) immer wieder “aktualisiert” werden kann und muß. Die Herausforderung in der Arbeit mit einer Person, die sich mir anvertraut hat ist für mich in drei Bereichen zu sehen: 1. Auftragslärung – passen die Werte des anfragenden Funktionssystems überein mit den Werten, die mir als Coach/Individuum wichtig sind. Damit habe ich die Möglichkeit sehr wohl politisch Einfluss zu nehmen, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Das hindert nicht daran, mit dem Coachee unter anderen Bedingungen (neuer Auftrag von der Person selbst) gemeinsam zu arbeiten, allerdings unter der Betrachtung der “ganzen Person”. 2. Hilfe zur Selbsthilfe: Wie konzentriert bin ich in meiner Arbeit, den Menschen offen zu machen, seine Fragen selbst zu beantworten, bzw. sein Leben selbst zu meistern? Auch wir neigen dazu, einen einmal festgelegten Auftrag bis zu Ende “durchzuziehen”. Das kriegen wir schon hin. soll heißen: wie stark ist unsere Zugehörigkeit zu einem Funktionssystem “während” unserer Arbeit? 3. Kommunikation: Die Reflexion und Auseinandersetzung über unsere Arbeit mit den Kollegen hält uns “wach” im Sinne von offen zu sein für Differenzierung. Genau diese Auseinandersetzung mit dem Thema wird zu einer gesellschaftlichen Veränderung führen und wird in der Auswirkung daher sehr politisch sein.

  2. […] mögest. Zum Wohl! (Nachtrag am 29.8.2014: Mittlerweile ist bei Vandenhoeck & Ruprecht ein von Julika Zwack und Elisabeth Nicolai herausgegebener Sammelband mit dem Titel „Systemische Strei… erschienen, der aus Anlass von Jochen Schweitzers Geburtstag konzipiert worden ist, und in dem 15 […]

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