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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Die gute Stube

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Im Haus eines befreundeten Bauernpaares wirkt eine Schmutzschleuse als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen. Sie lädt den Bauern und seine Mitarbeiter ein, auf dem Weg von Acker, Wiese oder Stall die Stiefel abzustellen, zu duschen und die Arbeitskleider an den Nagel zu hängen. Der Übergang in die häusliche Sphäre wird durch dieses kleine Ritual markiert. In den traditionellen Familienverhältnissen bleibt die Hausarbeit zwar Frauensache, aber durch die symbolische Reinigung, bei der auch die grösseren Kinder mitmachen, bekommt die Bäuerin Anerkennung für ihre Arbeit. Die Schmutzschleuse stiftet Ordnung und Entlastung im Alltag, und sie dient der Aufrechterhaltung weiblicher und männlicher Bereiche, ohne dass darüber noch «kommuniziert» werden muss.
Eine ähnliche Funktion hatte im Haus meiner Kindheit die gute Stube. Im Geschäftshaushalt war es selbstverständlich, dass während der Woche die Angestellten mit am Tisch aßen. Es wurde am Werktag für zwölf oder mehr Leute gekocht, und wir Kinder waren froh, wenn unsere Stimmen am Tisch überhaupt gehört wurden. Anders am Sonntag, wenn nur die «Kernfamilie», die Eltern und wir fünf Kinder, in der guten Stube assen – mit Porzellan und Silberbesteck. Auch wenn heute die Einrichtung der guten Stube als bürgerliche Spießigkeit abgetan wird, denke ich mit einem Lächeln an sie zurück. Für uns markierte sie wichtige Grenzen zwischen Arbeit, Familie, Öffentlichkeit und Privatheit.
Wenn ich mit modernen Paaren zusammen bin, kommt mir oft die Weisheit von Schmutzschleuse und guter Stube in den Sinn, die den Übergang von außen nach innen kennzeichnen. Klagen über das Fehlen solcher ritualisierter Übergänge klingen ähnlich. Eine Frau: Mein Mann kommt müde nach Hause, vielleicht von einer Reise – und was tut er? Er läuft durch die Wohnung und schimpft über herumliegende Spielsachen oder meine Arbeitspapiere auf dem Esstisch, oder er rennt zum Handy, bevor er uns begrüßt hat. Ein Mann: Ich gönne doch meiner Frau den Erfolg im Beruf. Aber wenn sie heimkommt und atemlos die Kinder nach ihren Hausaufgaben fragt oder den Geschirrspüler auszuräumen beginnt, ist der Abend im Eimer.
Übergänge ritualisieren: eine halbe Stunde aufs Bett liegen, bevor die Frau sich der Familienarbeit zuwendet; ein vereinbarter Rückzug an den Computer, bevor der Mann als Partner und Vater präsent wird. Oder ein gemeinsames Glas auf dem Balkon. Den Seelen erlauben, den Alltag hinter sich zu lassen und anzukommen.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf” veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

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