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Das Inzest-Tagebuch

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Im Klett-Cotta-Verlag ist dieses Jahr das Tagebuch einer – anonym bleiben wollenden – Amerikanerin über ihre eigenen Inzest-Erfahrungen im Belletristik-Programm erschienen. Das Buch ist in den USA ebenfalls in einem renommierten Literaturverlag erschienen und hat auch dort Aufsehen erregt, die New York Times hat ihm eine große Rezension gewidmet. Die Reaktionen sind kontrovers und heftig, weil die Beschreibung des sexuellen Missbrauches durch den eigenen Vater vom frühen Kindesalter an bis zum 21. Lebensjahr auch die Erfahrung des eigenen Begehrens und der Lust sehr offen und in einer sehr drastischen Sprache thematisiert – übrigens der Grund für die Entscheidung des Klett-Cotta-Verlages, dieses Buch in das Verlagsprogramm aufzunehmen, aber keine Werbung dafür zu treiben, die zwangsläufig in ein inhaltliches Dilemma geriete. Ilke Crone hat das Buch für systemagazin gelesen und empfiehlt es Professionellen, die mit Opfer andauernder, sexueller Gewalt therapeutisch arbeiten, zur Lektüre:

Ilke Crone, Bremen:

Die Autorin möchte anonym bleiben – das kann ich nachvollziehen. Mir fällt es schwer über dieses Buch zu schreiben. Es ist ein Tagebuch – also eigentlich etwas sehr Persönliches, Intimes, etwas, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Und doch hat sich die Autorin zu diesem Schritt entschlossen. Sie ist Amerikanerin – zumindest ist dort das Original unter dem Titel „The Incest Diary“ erschienen.

Schonungslos offen, fast brutal beschreibt die Autorin den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, der ihr gesamtes Leben bis zum Auszug aus dem Elternhaus andauert. In Erinnerungsfragmenten lässt sie die Leser an den nächtlichen Übergriffen ebenso teilhaben wie an ihren verschiedenen (gescheiterten) Versuchen bei ihrer Mutter oder anderen Erwachsenen Schutz und Hilfe zu suchen. Auch die Versuche ihres Körpers über „Streik“ auf das „Verbrechen am Kind“ aufmerksam zu machen, scheitern. Die sexuelle Gewalt durch den eigenen Vater hört nicht auf! Mit zunehmendem Alter erlebt sich das Mädchen gefangen in Abscheu und Ekel einerseits und eigenem Verlangen und Lust andererseits. Auch das beschreibt sie in ihrem Tagebuch. Als junge Erwachsene fühlt sie sich zu Partnern hingezogen, die sie in ähnlicher Weise als Objekt betrachten, benutzen und quälen, wie sie es von ihrem Vater kannte – das Tagebuch lässt ein Ende offen. Mir hat es wenig Hoffnung auf eine Wiederherstellung der eigenen weiblichen Würde und Unversehrtheit vermittelt.

Ich habe einige Monate verstreichen lassen, bevor ich mich nun endlich an die Tasten setze, um diese Besprechung zu formulieren. Mich hat das Inzest-Tagebuch erschreckt und beeindruckt – und als systemische Therapeutin frage ich mich, wie (wenn überhaupt) diese sehr intime (und vielleicht auch tabuisierte) Form der Bewältigung des Schreckens (denn als solche sehe ich die Entwicklung eigenen Verlangens in ausweglosen, dauernden Missbrauchsbeziehungen) in therapeutischen Prozessen angemessen formuliert und vielleicht sogar bearbeitet werden kann? Neben der Würdigung der Überlebensleistung und einem deutlichen Anerkenntnis des Unrechts braucht es sicher eine geduldige, anteilnehmende und gleichermaßen beharrliche Begleitung, damit Themen wie Scham, (Mit-)Schuld und Selbstverachtung behutsam im Gespräch „verflüssigt“ werden können. Damit Klientinnen mit  schweren Missbrauchserfahrungen ihre Selbstwirksamkeit im therapeutischen Prozess deutlich erleben können, sind Therapeutinnen besonders herausgefordert, sich einerseits den Möglichkeiten und dem Tempo der Klientinnen anzupassen und andererseits behutsam Impulse zu setzen, die eine Veränderung in Richtung Selbstachtsamkeit und -fürsorgeermöglichen. Auch wenn dies grundsätzlich für alle therapeutischen Prozesse gelten sollte, scheint es mir gerade bei dem Thema „Inzest“ von außerordentlicher Wichtigkeit. Und – bei allem Schrecken und Mitgefühl brauchen die Therapeutinnen eine angemessene Distanz und Selbstfürsorge, damit sie ihren Klientinnen einen sicheren, geborgenen und geschützten Raum anbieten können.

In diesem Sinne empfehle ich das Inzest-Tagebuch insbesondere Professionellen, die mit Personen therapeutisch arbeiten, die Opfer andauernder, sexueller Gewalt waren oder sind!

 

Eine (sehr ablehnende) Rezension von Eva-Maria Manz für die Stuttgarter Nachrichten

Eine Rezension von Carola Eberling für die TAZ

und eine Rezension von Mara Delius für die WELT, verbunden mit einem Interview mit dem Verleger Tom Kraushaar vom Klett-Cotta-Verlag.

 

Anonyma (2017): Das Inzest-Tagebuch. Klett-Cotta (Stuttgart)

Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke (Orig.: The Incest Diary)
1. Aufl. 2017, 142 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-608-96188-1
Preis: 17,00 €

Verlagsinformation

Eine junge Frau wird mehr als zwanzig Jahre lang von ihrem Vater sexuell missbraucht. Tiefsitzende Ängste prägen ihr Sein, ihr Weltbild, ihr Verständnis von Familie. Unter dem Deckmantel einer intakten Familie wächst das Kleinkind zum Mädchen und schließlich zur Frau heran. Doch selbst im Erwachsenenalter lässt sie sich auf immer wieder neue Spielformen der Abhängigkeit, der Unterwerfung und der Gewalt ein. In diesem Memoir ruft die Erzählerin ihre Kindheitstraumata und deren Folgen wieder auf. Sie spürt der Frage nach, wie die jahrzehntelangen Vergewaltigungen durch ihren Vater sie geprägt haben und inwiefern sie den erlernten Abhängigkeiten immer noch unterworfen ist. Ihr Tatsachenbericht legt offen, dass ein Leben, welches als Sexualobjekt statt als Kind begonnen wird, kein Leben ist. Die körperlichen und psychischen Zwänge, denen die Erzählerin jahrelang ausgesetzt war, münden in eine Abwärtsspirale, aus der es kein Entkommen gibt.

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